GEGEN DAS VERGESSEN

GEGEN DAS VERGESSEN

Ort: Stadtbibliothek Ettlingen, Ob. Zwingergasse 12, 76275 Ettlingen

TERMIN : 10.05.2024       10 Uhr 30

LESEN GEGEN DAS VERGESSEN

In Gedenken an die Bücherverbrennung 1933 lesen wir am 10.05.2024 von 10 uhr – ca 11 Uhr 30 in der Stadtbibliothek Ettlingen

Interessierte, die mitwirken und Texte lesen wollen sind herzlich eingeladen sich unter: info@entspannung-und-entfaltung.de anzumelden

SCHREIBEND DER BÜCHERVERBRENNUNG GEDENKEN

TERMIN : 11.05.2024 16 – ca 20 Uhr

Kursgebühr 20 €  an Stadtbibliothek Ettlingen

 Teilnehmerzahll:  zwischen 5 und 10 Personen

Teil 1 Sie wenden sich all dem zu, was die Bücherverbrennung 1933 in Ihnen auslöst

Teil 2 Sie schreiben   zu einem Text, einem Gedicht, einer Erzählung oder auch einem Roman eines Schriftstellers, von dem Bücher 1933 verbrannt wurden.

 

GEGEN DAS VERGESSEN

Hier eine Auswahl an Texten und Gedichten:

LISTE

  1. Bertolt Brecht
    1. Die Bücherverbrennung
    2. AN DEN SCHWANKENDEN
    3. Lied der Lyriker
    4. An die Nachgeborenen
  2. Kurt Tucholsky
    1. Augen in der Großstadt
  3. Mascha Kaleko
    1. Mein schönstes Gedicht
    2. Sozusagen ein Mailied
    3. Die Zeit steht still
    4. Eine Negerin im Harlems-Express
  4. Joachim Ringelnatz
    1. Aus meiner Kinderzeit
    2. Blues
    3. Maikäfermalen
    4. Kuttel-Duddel und die Kinder
  5. Ernst Toller
    1. Marschlied
    2. Die Feuerkannnntate
  6. Franz Werfel
    1. Der schöne strahlende Mensch
    2. Der Schneefall
  7. Erich Kästner
    1. Die andere Möglichkeit
  8. Bertha von Suttner
    1. Liebwerte Schwestern
    2. Nobelvorlesung

 

 

 

 

Bertolt Brecht

 

 

 

Bertolt Brecht

Die Bücherverbrennung

Als das Regime befahl, Bücher mit schädlichem Wissen

Öffentlich zu verbrennen, und allenthalben

Ochsen gezwungen wurden, Karren mit Büchern

Zu den Scheiterhaufen zu ziehen, entdeckte

Ein verjagter Dichter, einer der besten, die Liste der

Verbrannten studierend, entsetzt, daß seine

Bücher vergessen waren. Er eilte zum Schreibtisch

Zornbeflügelt, und schrieb einen Brief an die Machthaber.

Verbrennt mich! schrieb er mit fliegender Feder, verbrennt mich!

Tut mir das nicht an! Laßt mich nicht übrig! Habe ich nicht

Immer die Wahrheit berichtet in meinen Büchern? Und jetzt

Werd ich von euch wie ein Lügner behandelt!

Ich befehle euch, Verbrennt mich!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bertolt Brecht

 

AN DEN SCHWANKENDEN

Du sagst:
Es steht schlecht um unsere Sache.
Die Finsternis nimmt zu. Die Kräfte nehmen ab.
Jetzt, nachdem wir so viele Jahre gearbeitet haben
Sind wir in schwierigerer Lage als am Anfang.

Der Feind aber steht stärker da denn jemals.
Seine Kräfte scheinen gewachsen. Er hat ein
unbesiegliches Aussehen angenommen.
Wir aber haben Fehler gemacht, es ist nicht mehr zu leugnen.
Unsere Zahl schwindet hin.
Unsere Parolen sind in Unordnung. Einen Teil unserer Wörter
Hat der Feind verdreht bis zur Unkenntlichkeit.

Was ist jetzt falsch von dem, was wir gesagt haben
Einiges oder alles?
Auf wen rechnen wir noch? Sind wir Übriggebliebene, herausgeschleudert
Aus dem lebendigen Fluß? Werden wir zurückbleiben
Keinen mehr verstehend und von keinem verstanden?

Müssen wir Glück haben?

So fragst du. Erwarte
Keine andere Antwort als die deine!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bertolt Brecht

 

LIED DER LYRIKER
(als schon im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts für Gedichte nichts mehr gezahlt wurde)

1
Das, was ihr hier lest, ist in Versen geschrieben!
Ich sage das, weil ihr vielleicht nicht mehr wißt
Was ein Gedicht und auch was ein Dichter ist!
Wirklich, ihr habt es mit uns nicht zum besten
getrieben!

2
Sagt, habt ihr nichts bemerkt? Habt ihr gar nichts zu fragen?
Fiel’s euch nicht auf, daß schon lang kein Gedicht mehr erschien?
Wißt ihr, warum? Nun schön, ich will es euch sagen:
Früher las man den Dichter, und man bezahlte ihn.

3
Heute wird nichts mehr bezahlt für Gedichte. Das ist es.
Darum wird heut auch kein Gedicht mehr geschrieben!
Denn der Dichter fragt auch: Wer bezahlt es? Und nicht  n u r: Wer liest es?
Und wenn er nicht bezahlt wird, dann dichtet er nicht! So weit habt ihr’s getrieben!

4
Aber warum nur? so fragt er, was hab ich verbrochen?
Hab ich nicht immer getan, was verlangt wurd von denen die zahlen?
Hielt ich nicht immer das, was ich versprochen?
Und jetzt höre ich auch von denen, die Bilder malen

5
Daß kein Bild mehr gekauft wird! Und auch die Bilder
Waren doch immer geschmeichelt! Jetzt stehn sie im Speicher…
Habt ihr was gegen uns? Warum wollt ihr nicht zahlen?
Wie wir doch lesen, werdet ihr reicher und reicher…

6
Haben wir nicht, wenn wir genügend im Magen
Hatten, euch alles besungen, was ihr auf Erden genossen?
Daß ihr es nochmals genösset: das Fleisch eurer Weiber!
Trauer des Herbstes! Den Bach, und wie er durch Mondlicht geflossen…

7
Eurer Früchte Süße! Geräusch des fallenden Laubes!
Wieder das Fleisch eurer Weiber! Das Unsichtbare
Über euch! Selbst euer Gedenken des Staubes
In den ihr euch einst verwandelt am End eurer Jahre!

8
Und nicht nur das habt ihr gerne bezahlt! Auch das, was wir denen
Sagten, die nicht wie ihr auf die goldenen Stühle gesetzt sind
Habt ihr sonst immer bezahlt! Dies Trocknen der Tränen!
Und dies Trösten derer, die von euch verletzt sind!

9
Vieles haben wir euch geleistet! Und nie uns geweigert!
Stets unterwarfen wir uns! Und sagten doch höchstens: Bezahl es!
Wieviel Untat haben wir so verübt! Für euch! Wieviel Untat!
Und wir begnügten uns stets mit den Resten des Mahles!

10
Ach, vor eure in Dreck und Blut versunkene Karren
Haben wir noch immer unsere großen Wörter gespannt!
Euren Viehhof der Schlachten haben wir „Feld der Ehre“
Eure Kanonen „erzlippige Brüder“ genannt.

11
Auf die Zettel, die für euch Steuern verlangten
Haben wir die erstaunlichsten Bilder gemalt.
Unsere anfeuernden Lieder brüllend
Haben sie euch immer wieder die Steuern bezahlt!

12
Wir haben die Wörter studiert und gemischt wie Drogen
Und nur die besten und allerstärksten verwandt.
Die sie von uns bezogen, haben sie eingesogen
Und waren wie Lämmer in eurer Hand!

13
Euch selber haben wir stets mit was ihr nur wolltet verglichen
Meistens mit solchen, die auch schon mit Unrecht gefeiert wurden von solchen
Die wie wir ohne Warmes im Magen Gönner umstrichen
Und eure Feinde verfolgten wir wild mit Gedichten wie Dolchen.

14
Warum also besucht ihr plötzlich nicht mehr unsre Märkte?
Sitzt nicht so lange beim Essen! Uns werden die Reste ja kalt!
Warum bestellt ihr nichts mehr bei uns? Kein Bild? Nicht ein Loblied?
Glaubt ihr etwa auf einmal, daß ihr so, wie ihr seid, gefallt?

15
Hütet euch, ihr! Ihr könnt uns durchaus nicht entbehren!
Wenn wir nur wüßten, wie euer Aug auf uns lenken!
Glaubt uns, ihr Herren, daß wir heut billiger wären!
Freilich können wir euch unsere Bilder und Verse nicht schenken

16
Als ich das, was ihr hier lest (ach, lest ihr’s?) , begonnen
Wollt ich auch jede dritte Zeile in Reimen verfassen.
Aber da war mir die Arbeit zu groß, ich gesteh es nicht gerne
Und ich dachte: wer soll das bezahlen? und hab es gelassen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bertolt  Brecht

 

AN DIE NACHGEBORENEN

Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht
Nur noch nicht empfangen.

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist.
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind?

Es ist wahr: ich verdiene noch meinen Unterhalt
Aber glaubt mir: das ist nur ein Zufall. Nichts
Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich sattzuessen.
Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt, bin ich verloren.)

Man sagt mir: iss und trink du! Sei froh, dass du hast!
Aber wie kann ich essen und trinken, wenn
Ich dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?
Und doch esse und trinke ich.

Ich wäre gerne auch weise.

In den alten Büchern steht, was weise ist:
Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
Ohne Furcht verbringen.
Auch ohne Gewalt auskommen,
Böses mit Gutem vergelten
Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen,
Gilt für weise.
Alles das kann ich nicht:
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

II
In die Städte kam ich zur Zeit der Unordnung
Als da Hunger herrschte.
Unter die Menschen kam ich zur Zeit des Aufruhrs
Und ich empörte mich mit ihnen.
So verging meine Zeit,
Die auf Erden mir gegeben war.

Mein Essen aß ich zwischen den Schlachten.
Schlafen legte ich mich unter die Mörder.
Der Liebe pflegte ich achtlos
Und die Natur sah ich ohne Geduld.
So verging meine Zeit,
Die auf Erden mir gegeben war.

Die Straßen führten in den Sumpf zu meiner Zeit.
Die Sprache verriet mich dem Schlächter.
Ich vermochte nur wenig. Aber die Herrschenden
Saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich.
So verging meine Zeit,
Die auf Erden mir gegeben war.

Die Kräfte waren gering. Das Ziel
Lag in großer Ferne
Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich
Kaum zu erreichen.
So verging meine Zeit,
Die auf Erden mir gegeben war.

III
Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
In der wir untergegangen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
Auch der finsteren Zeit
Der ihr entronnen seid.

Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd
Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt
Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.
Dabei wissen wir doch:
Auch der Hass gegen die Niedrigkeit
verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.

Ihr aber, wenn es so weit sein wird
Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unserer
Mit Nachsicht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mascha  Kaleko

 

 

Mein schönstes Gedicht?
Ich schrieb es nicht.
Aus tiefsten Tiefen stieg es.
Ich schwieg es.

 

 

 

 

 

 

Mascha Kaleko

 

Take it easy!«

Tehk it ih-si, sagen sie dir.
Noch dazu auf englisch.
„Nimm’s auf die leichte Schulter!“

Doch, du hast zwei.
Nimm’s auf die leichte.

Ich folgte diesem populären
Humanitären Imperativ.
Und wurde schief.
Weil es die andre Schulter
Auch noch gibt.

Man muß sich also leider doch bequemen,
Es manchmal auf die schwerere zu nehmen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Mascha  Kaleko

 

Sozusagen ein Mailied

Manchmal, mitten in jenen Nächten,
Die ein jeglicher von uns kennt,
Wartend auf den Schlaf des Gerechten,
Wie man ihn seltsamerweise nennt,
Denke ich an den Rhein und die Elbe,
Und kleiner, aber meiner, die Spree.
Und immer wieder ist es dasselbe:
Das Denken tut verteufelt weh.

Manchmal, mitten im freien Manhatten,
Unterwegs auf der Jagd nach dem Glück,
Hör ich auf einmal das Rasseln der Ketten.
Und das bringt mich wieder auf Preußen zurück.
Ob dort die Vögel zu singen wagen?
Gibt’s das noch: Werder im Blütenschnee . . .
Wie mag die Havel das alles ertragen,
Und was sagt der alte Grunewaldsee?

Manchmal, angesichts neuer Bekanntschaft
Mit üppiger Flora, – glad to see –
Sehnt sichs in mir nach magerer Landschaft,
Sandiger Kiefer, weißnichtwie.
Was wissen Primeln und Geranien
Von Rassenkunde und Medizin . . .
Ob Ecke Uhland die Kastanien
Wohl blühn?

. . .

 

 

 

 

Mascha Kaleko

 

Die Zeit steht still

 

Die Zeit steht still. Wir sind es, die vergehen.

Und doch, wenn wir im Zug vorüberwehen,

scheint Haus und Feld und Herden, die da grasen,

wie ein Phantom an uns vorbeizurasen.

Da winkt uns wer und schwindet wie im Traum,

mit Haus und Feld, Laternenpfahl und Baum.

So weht wohl auch die Landschaft unsres Lebens

an uns vorbei zu einem andern Stern

und ist im Nahekommen uns schon fern.

Sie anzuhalten suchen wir vergebens

und wissen wohl, dies alles ist nur Trug.

Die Landschaft bleibt, indessen unser Zug

zurücklegt die ihm zugemessnen Meilen.

Die Zeit steht still. Wir sind es, die enteilen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mascha  Kaleko

 

Einer Negerin im Harlem-Expreß


Dunkles Mädchen eines fremden Stammes,
Tief im Dschungel dieser fremden Stadt,
Deiner Augen schwarzverhangne Trauer
Sagt mir, was dein Herz gelitten hat.

Immer möchte ich dich leise fragen:
Weißt du, daß wir heimlich Schwestern sind?
Du, des Kongo dunkelbraune Tochter,
Ich, Europas blasses Judenkind.

Von der Schmach, die Abkunft zu verstecken,
Schützt dich, allen sichtbar, deine Haut.
– Vor der andern Haß, da sie entdecken,
Daß sie dir „versehentlich“ getraut.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Joachim Ringelnatz

 

 

Joachim Ringelnatz

Aus meiner Kinderzeit

Vaterglückchen, Mutterschößchen,
Kinderstübchen, trautes Heim,
Knusperhexlein, Tantchen Röschen,
Kuchen schmeckt wie Fliegenleim.

Wenn ich in die Stube speie,
Lacht mein Bruder wie ein Schwein.
Wenn er lacht, haut meine Schwester.
Wenn sie haut, weint Mütterlein.

Wenn die weint, muss Vater fluchen.
Wenn er flucht, trinkt Tante Wein.
Trinkt sie Wein, schenkt sie mir Kuchen:
Wenn ich Kuchen kriege, muss ich spein.

 

 

Joachim Ringelnatz

 

Blues

Wenn du nicht froh kannst denken,
Obwohl nichts Hartes dich bedrückt,
Sollst du ein Blümchen verschenken,
Aufs Geratewohl von dir gepflückt.

Irgendein staubiger, gelber, –
Sei’s Hahnenfuß – vom Wegesrand.
Und schenke das Blümchen dir selber
Aus linker Hand an die rechte Hand.

Und mache dir eine Verbeugung
Im Spiegel und sage: »Du,
Ich bin der Überzeugung,
Dir setzt man einzig schrecklich zu.
Wie wär’s, wenn du jetzt mal sachlich
Fleißig einfach arbeiten tätst?
Später prahle nicht und jetzt lach nicht,
Dass du nicht in Übermut gerätst.«

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Joachim Ringelnatz

 

Maikäfermalen

Setze Maikäfer in Tinte. (Es geht auch mit Fliegen.)
Zweierlei Tinte ist noch besser, schwarz und rot.
Lass sie aber nicht zu lange darin liegen,
Sonst werden sie tot.
Flügel brauchst du nicht erst rauszureißen.
Dann musst du sie alle schnell aufs Bett schmeißen
Und mit einem Bleistift so herumtreiben,
Dass sie lauter komische Bilder und Worte schreiben.
Bei mir schrieben sie einmal ein ganzes Gedicht.
– – – –
Wenn deine Mutter kommt, mache ein dummes Gesicht;
Sage ganz einfach: »Ich war es nicht!«

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Joachim Ringelnatz

 

Kuttel-Daddeldu und die Kinder

Wie Daddeldu so durch die Welten schifft,
Geschieht es wohl, dass er hie und da
Eins oder das andre von seinen Kindern trifft,
Die begrüssen dann ihren Europapa:
„Gud morning! – Sdrastwuide! – Bong Jur, Daddeldü!
Bon tscherno! Ok phosphor! Tsching-tschung! Bablabü!“
Und Daddeldu dankt erstaunt und gerührt
Und senkt die Hand in die Hosentasche
Und schenkt ihnen, was er so bei sich führt,
— Whiskyflasche,
Zündhölzer, Opium, türkischen Knaster,
Revolverpatronen und Schweinsbeulenpflaster,
Gibt jedem zwei Dollar und lächelt: „Ei, ei!“
Und nochmals: „Ei, ei!“ – Und verschwindet dabei.

Aber Kindern von deutschen und dänischen Witwen
Pflegt er sich intensiver zu widmen.
Die weiss er dann mit den seltensten Stücken
Aus allen Ländern der Welt zu beglücken.
Elefantenzähne – Kamerun,
Mit Kognak begoss’nes malaiisches Huhn,
Aus Friedrichroda ein Straussenei,
Aus Tibet einen Roman von Karl May,
Einen Eskimoschlips aus Giraffenhaar,
Auch ein Stückchen versteinertes Dromedar.

Und dann spielt der poltrige Daddeldu
Verstecken, Stierkampf und Blindekuh,
Markiert einen leprakranken Schimpansen,
Lehrt seine Kinderchen Bauchtanz tanzen
Und Schiffchen schnitzen und Tabak kauen.
Und manchmal, in Abwesenheit älterer Frauen,
Tätowiert er den strampelnden Kleinchen
Anker und Kreuze auf Ärmchen und Beinchen.

Später packt er sich sechs auf den Schoss
Und lässt sich nicht lange quälen,
Sondern legt los:
Grog saufen und dabei Märchen erzählen;
Von seinem Schiffbruch bei Helgoland,
Wo eine Woge ihn an den Strand
auf eine Korallenspitze trieb,
Wo er dann händeringend hängenblieb.
Und hatte nichts zu fressen und saufen;
Nicht mal, wenn er gewollt hätte,
einen Tropfen Trinkwasser,
um seine Lippen zu benetzen.
Und kein Geld, keine Uhr zum Versetzen.
Ausserdem war da gar nichts zu kaufen;
Denn dort gab’s nur Löwen mit Schlangenleiber,
Sonst weder keine Menschen als auch keine Weiber.
Und er hätte gerade so gern einmal wieder
Ein kerniges Hamburger Weibstück besucht.
Und da kniet Kuttel nach Osten zu nieder.
Und als er zum drittenmal rückwärts geflucht,
Da nahte sich plötzlich der Vogel Greif,
Und Daddeldu sagte: „Ei wont ä weif.“
Und der Vogel Greif trug ihn schnell
Bald in dies Bordell, bald in jenes Bordell
Und schenkte ihm Schlackwurst und Schnaps und so weiter. –
So erzählt Kuttel Daddeldu heiter, –
Märchen, die er ganz selber erfunden.
Und säuft. – Es verfliessen die Stunden.
Die Kinder weinen. Die Märchen lallen.
Die Mutter ist längst untern Tisch gefallen,
Und Kuttel – bemüht, sie aufzuheben –
Hat sich schon zweimal dabei übergeben.
Und um die Ruhe nicht länger zu stören,
Verlässt er leise Mutter und Göhren.

Denkt aber noch tagelang hinter Sizilien
An die traulichen Stunden in seinen Familien.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ernst Toller

Ernst Toller

 

Marschlied

Sinnlosigkeit der Kriege –
dennoch ziehen wir stumm in die Schlacht

Wir Wand’rer zum Tode,
Der Erdnot geweiht.
Wir kranzlose Opfer,
Zu Letztem bereit.

Wir fern aller Freude
Und fremd aller Qual.
Wir Blütenverwehte
Im nächtlichen Tal.

Wir Preis einer Mutter,
Die nie sich erfüllt.
Wir wunschlose Kinder,
Von Schmerzen gestillt.

Wir Tränen der Frauen,
Wir lichtlose Nacht,
Wir Waisen der Erde
Ziehn stumm in die Schlacht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ernst Toller

 

DIE FEUER-KANTATE

I

 

Ein altes Sprichwort

Du sollst nicht mit dem feuer spielen,

Sagt ein altes Sprichwort

Wer mit dem feuer spielt,

verbrennt sich die Hände.

Doch spielen viele menschen

Gerne mit dem feuer.

Auch verbrennen Mörder

Zuweilen ihre Opfer,

um die Spuren des Mordes zu verwischen.

 

II

Das Hakenkreuz

Die Sonne brennt

Seit Millionen Jahre;

Ihr Feuer erwärmt

die frierende Erde,

das getier in den Wäldern,

die Fische im Wasser

und die sanften Blumen.

Die Menschen lobten

das himmlische Feuer

und schufen sich ein irdisches Bild

der kreisenden Sonne:

das Hakenkreuz.

Als über Deutschland

Das Hakenkreuz  zu leuchten

begann,

war es ein trübes Leuchten,

und es war ein Geruch

von versengtem

Menschenfleisch

 

III

Die bösen Kommunisten

Warum brennt unsere Sonne,

warum leuchtet sie nicht ?

sagten die Männer, die das Hakenkreuz

am Armbandtrugen.

Daran sind die bösen

Kommunisten schuld,

sie spielen nicht mit dem Feuer

da liegt der Hund begraben.

 

IV

Beratung

Es war ein Streiten und Raufen,

welches Haus am

rötesten brennen würde

in der mondlosen Winternacht.

Und sie beschlossen

den Reichstag anzuzünden.

Dort schlief die deutsche Freiheit

Einen schweren traumlosen Schlaf.

 

V

Feurio

Der Reichstag brennt!

Schrien die Extrablätter,

der Reichstag brenn!

Funkten die Morseapparate,

Der Reichstag brennt!

Gröhlte das Radio.

Die bösen Kommunisten

haben mit dem Feuer gespielt,

das sollen sie büßen!

In dieser Nacht

verhafteten die Führer,

die das Hakenkreuz trugen,

Männer und Frauen

zu tausenden,

und sie wachten darüber,

dass die Feuerwehr den Brand nicht lösche.

 

VI

Die Sonne

bringt es an den Tag

Als am nächsten Tag

Die Sonne den Himmel rötete,

sah man verkohlte Balken

und einen Haufen Asche-

aber auch die Spuren

der Brandstifter.

Und die Menschen deuteten

mit Fingern auf ihre

versengten Hände,

und es ging ein Flüstern

und Raunen

durch die Welt:

Hakenkreuz verbrennt den Reichstag!

 

 

 

VII

Das Wunder

Wunder geschehen nicht

Auf dieser Erde:

Hast due ein Feuer erstickt

Und war es noch so

Gewaltig,

kannst du es nicht mehr entfachen

mit dem Atem

deines Mundes

oder einem Blasebalg;

der Weise bedenkt,

bevor er

handelt.

Aber diesmal geschah

ein Wunder:

der Reichstag

Brannte in einer Nacht –

doch er brennt,

brennt fort

in allen Nächten

und er leuchtet

künfitgen Geschlechtern!

Denn Du sollst nicht

Mit dem Feuer spielen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Franz  Werfel

 

 

 

Franz Werfel

 

Der schöne strahlende Mensch

Die Freunde, die mit mir sich unterhalten,
Sonst oft mißmutig, leuchten vor Vergnügen,
Lustwandeln sie in meinen schönen Zügen
Wohl Arm in Arm, veredelte Gestalten.

Ach, mein Gesicht kann niemals Würde halten,
Und Ernst und Gleichmut will ihm nicht genügen,
Weil tausend Lächeln in erneuten Flügen
Sich ewig seinem Himmelsbild entfalten.

Ich bin ein Korso auf besonnten Plätzen,
Ein Sommerfest mit Frauen und Bazaren,
Mein Auge bricht von allzuviel Erhelltsein.

Ich will mich auf den Rasen niedersetzen,
Und mit der Erde in den Abend fahren.
O Erde, Abend, Glück, oh auf der Welt sein!!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Franz Werfel

 

 

 

Der Schneefall

O langsames Fallen des Schnees,
Unendliches schleierndes Treiben!
Wär‘ doch mein Auge geistesgestählt,
Ihm könnte verborgen nicht bleiben,
Daß jede Flocke des weißen Gewehs
Gewußt ist, gewogen, gezählt.

O Flocken, die tanzend sich drehn,
Ihr klein beseelten Persönlichkeiten,
Vertragen von Schwere, Leichte und Wind,
In eurem Kommen und gehen
Seh ich die Schicksale niedergleiten,
Die ihr beginnt, vollendet, beginnt …

Die eine fällt wollig und weich,
Die andre voll Trotz und kristallen,
Die dritte von Widerständen geballt.
Doch löst sich morgen das bleiche Reich,
So stirbt nicht eine von allen
Und die reinsten tauen zur Tropfengestalt.

 

 

 

 

 

 

Kurt Tucholsky

 

 

 

 

Kurt Tucholsky

 

Augen in der Großstadt

 

Wenn du zur Arbeit gehst

am frühen Morgen,

wenn du am Bahnhof stehst

mit deinen Sorgen:

da zeigt die Stadt

dir asphaltglatt

im Menschentrichter

Millionen Gesichter:

Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,

die Braue, Pupillen, die Lider –

Was war das? vielleicht dein Lebensglück…

vorbei, verweht, nie wieder.

 

Du gehst dein Leben lang

auf tausend Straßen;

du siehst auf deinem Gang, die

dich vergaßen.

Ein Auge winkt,

die Seele klingt;

du hasts gefunden,

nur für Sekunden…

Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,

die Braue, Pupillen, die Lider;

Was war das? kein Mensch dreht die Zeit zurück…

Vorbei, verweht, nie wieder.

 

Du mußt auf deinem Gang

durch Städte wandern;

siehst einen Pulsschlag lang

den fremden Andern.

Es kann ein Feind sein,

es kann ein Freund sein,

es kann im Kampfe dein

Genosse sein.

Er sieht hinüber

und zieht vorüber …

Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,

die Braue, Pupillen, die Lider.

Was war das?

Von der großen Menschheit ein Stück!

Vorbei, verweht, nie wieder.

 

 

 

Erich Kästner

 

 

 

 

Erich Kästner

 

Die andere Möglichkeit

 

Wenn wir den Krieg gewonnen hätten,
mit Wogenprall und Sturmgebraus,
dann wäre Deutschland nicht zu retten
und gliche einem Irrenhaus.

Man würde uns nach Noten zähmen
wie einen wilden Völkerstamm.
Wir sprängen, wenn Sergeanten kämen,
vom Trottoir und stünden stramm.

Wenn wir den Krieg gewonnen hätten,
dann wären wir ein stolzer Staat.
Und pressten noch in unsern Betten
die Hände an die Hosennaht.

Die Frauen müssten Kinder werfen,
Ein Kind im Jahre. Oder Haft.
Der Staat braucht Kinder als Konserven.
Und Blut schmeckt ihm wie Himbeersaft.

Wenn wir den Krieg gewonnen hätten,
dann wär der Himmel national.
Die Pfarrer trügen Epauletten
Und Gott wär deutscher General.

Die Grenze wär ein Schützengraben.
Der Mond wär ein Gefreitenknopf.
Wir würden einen Kaiser haben
und einen Helm statt einem Kopf.

Wenn wir den Krieg gewonnen hätten,
dann wäre jedermann Soldat.
Ein Volk der Laffen und Lafetten!
Und ringsherum wär Stacheldraht!

Dann würde auf Befehl geboren.
Weil Menschen ziemlich billig sind.
Und weil man mit Kanonenrohren
allein die Kriege nicht gewinnt.

Dann läge die Vernunft in Ketten.
Und stünde stündlich vor Gericht.
Und Kriege gäb’s wie Operetten.
Wenn wir den Krieg gewonnen hätten –
zum Glück gewannen wir ihn nicht!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

BERTHA VON SUTTNER

 

 

 

 

 

BERTHA VON SUTTNER

 

Liebwerte Schwestern!

Da die Umstände es mir leider verwehrt haben, in Ihre Mitte zu kommen, so will ich doch schriftlich an der ersten Tagung des „Frauenbundes der Deutschen Friedensgesellschaft“ teilnehmen.

Seien Sie mir gegrüßt und beglückwünscht, verehrte Kämpferinnen. Denn als solche werden Sie sich bewähren müssen: Es wird Ihnen nicht ganz leicht gemacht werden, für die pazifistischen Ideale einzutreten. Auch unter den Frauen selber dürften Ihnen viele Gegnerinnen erwachsen. Es ist durchaus nicht richtig, wie manche behaupten, dass alle Frauen von Natur aus dem Kriege abhold sind. Nein, nur die fortschrittlich gesinnten Frauen, nur solche, die sich zu sozialem Denken erzogen haben, sind es, die die Kraft haben, sich von dem Banne tausendjähriger Institutionen zu befreien, und zugleich die Kraft aufbringen, dieselben zu bekämpfen.

Die Zeit rückt immer näher, da die Frauen im Rat der Völker, in der Lenkung politischer Dinge Sitz und Stimme besitzen werden, es wird ihnen daher möglich sein, gegen das, was sie als Kulturschäden erkannt haben, nicht lediglich zu protestieren, sondern an der Umwandlung der Zustände tätig und praktisch mitzuwirken.

Die Treibereien der Waffenfabri-
kation entlarven!

Dabei werden und dürfen sie ihre spezifischen weiblichen Eigenschaften – als da sind: Milde, Reinheit, Mitleid, warme Menschenliebe – nicht zurückdrängen, sondern mit in den Dienst stellen. Nicht als ob es Aufgabe und Bestimmung der Frauen wäre, allein die kriegslose Kultur herbeizuführen; doch ist ihre Mitarbeit zur Beschleunigung und Erreichung unerlässlich. Zur Stunde sind gar viele männliche Kräfte am Werke, den Krieg abzuwehren, den unerträglich gewordenen Rüstungen ein Ziel zu setzen, die verhetzten Völker miteinander zu versöhnen, die Treibereien der Interessenten der Waffenfabrikation zu entlarven.

Wir sehen, dass die Juristen, die Völkerrechtler, die Nationalökonomen, die Arbeiter und die Handelsleute – jeder von seinem Standpunkt – die Ergebnislosigkeit des Krieges und die Schädlichkeit der allen Wohlstand untergrabenden Rüstungen anklagen; wir lesen die genialen Bücher eines Norman Angell, die den mathematischen Beweis erbringen, dass keine Landeseroberung noch Gewinn bringen kann, – kurz: politisch und ökonomisch, logisch und soziologisch wird dem anarchistisch gewordenen System der gegenseitigen Menschenabschlachtungen entgegengearbeitet.

Auch zahlreiche Geistliche verschiedenster Bekenntnisse beginnen, sich pazifistisch zu organisieren und nun treten die Frauen auf den Plan. Da fragt es sich, welche besondere Aufgabe fällt diesen zu? Eigentlich können wir, soweit unsere Kenntnisse und Einflüsse reichen, auf all den oben genannten Gebieten uns betätigen, denn heute sind uns ja keine sozialen Studien mehr verwehrt, und täglich stehen uns mehr öffentliche Ämter offen. Aber noch eines mehr können wir tun, vor dem die meisten Männer sich zurückhalten, weil sie nicht als schwachmütig und rührselig erscheinen wollen: Lassen wir unsere Herzen sprechen! Im Namen der Liebe, diesem heiligsten aller Gefühle, das ja als die eigentlichste Domäne des Weibes gilt, im Namen der Güte, die ja erst den Menschen „menschlich“ macht, im Namen des Gottesbegriffs, zu dem sich unsere Ehrfurcht erhebt, wollen wir den Krieg bekämpfen; nicht nur, weil er sich nicht mehr auszahlt und daher eine Torheit – sondern weil er grausam und daher ein Verbrechen ist. Das soll in all dem Aufwand von politischen und ökonomischen Argumenten nicht vergessen werden.

Das Gefühl nicht gegen die Gräuel verschließen

Desto besser, wenn sich der Verstand auch gegen den Krieg auflehnt, aber unterdrücken wir darum nicht die Empörung unserer Herzen. Nicht nur das Denken und Erkennen, das Rechnen und Schlussfolgern zeugt von unseren Seelenkräften, sondern auch das Fühlen. Klar und scharf sollen unsere Gedanken sein, warm und edel die Gefühle – erst so ist die volle Menschenwürde erreicht. Richtige Schlüsse ziehen ist schön – begeistert sein ist schöner. Leidenschaft brauchen wir, um zu handeln und zu wirken – nur Leidenschaft reißt hin.

Zu den Gefühlen, die uns der Krieg einflößt, gehört leidenschaftlicher Mitschmerz; denn die Gräuel, die himmelschreienden Leiden, die er verursacht, gehen schon über die Grenzen des Erträglichen hinaus. Er nimmt ja täglich mit jeder neuen Heeresverstärkung, jeder neuen Erfindung an Fürchterlichkeit zu.

Warten wir nur, bis alle Details aus den Balkankämpfen uns zur Kenntnis kommen – die Verjagten, die Massakrierten, die Verhungerten, die lebendig Verbrannten … nein, gegen das alles darf man sich nicht verschließen. All dem Elend muss man ins Gesicht sehen, aber nicht, um es als Unglück zu beklagen, sondern als Schlechtigkeit anzuklagen! Denn es ist keine Elementarkatastrophe, es ist das Ergebnis menschlichen Irrwahns und menschlicher Fühllosigkeit.

Also lassen wir uns durch den Vorwurf der Sentimentalität nicht abschrecken. Wir haben das Recht, wir Frauen, unsere Gefühle zu zeigen. Seit jeher, auch schon zu Römerszeiten, hatten die Mütter das Privileg, den Krieg zu hassen. Lassen wir uns ja diesen instinktiven Hass – der ja nur eine intensive Form von Menschenliebe ist – nicht rauben; er soll unter den mannigfaltigen Waffen, die unsere neue Zeit gegen barbarische alte Institutionen schmiedet, vielleicht eine der wirksamsten, gewiss eine der edelsten sein. Also liebe Schwestern, ans Werk und seid standhaft!

Montecuculi sagte: „Zum Kriegführen braucht man Geld, Geld und wieder Geld.“ Ich will nicht sagen, dass wir das Ding zu unserer Kampagne nicht auch gut brauchen könnten; aber die Hauptsache ist doch: Ausdauer, Ausdauer und noch einmal Ausdauer! Ich hoffe noch viel vom „Frauenbund der Deutschen Friedensgesellschaft“ zu hören. Und ich lade Sie herzlichst ein, uns eine Abordnung des Bundes zum XXI. Weltfriedenskongress nach Wien zu schicken. Eine Kundgebungsversammlung Ihnen gleichgesinnter Wiener Frauen ist auf das Programm gesetzt.

Wie würde ich mich freuen, Ihnen allen die Hand drücken und ins Auge schauen zu können!

 

 

 

 

 

BERTHA VON SUTTNER

 Nobelvorlesung

Vortrag, Gehalten vor dem Nobel-Comité des Storthing zu Christiania am l8. April 1906

Die Entwicklung der Friedensbewegung

Die ewigen Wahrheiten und ewigen Rechte haben stets am Himmel der menschlichen Erkenntnis aufgeleuchtet, aber nur gar langsam wurden sie von da herab geholt, in Formen gegossen, mit Leben gefüllt, in Taten umgesetzt.

Eine jener Wahrheiten ist die, dass Frieden die Grundlage und das Endziel des Glückes ist, und eines jener Rechte ist das Recht auf das eigene Leben. Der stärkste aller Triebe, der Selbsterhaltungstrieb, ist gleichsam eine Legitimation dieses Rechtes, und seine Anerkennung ist durch ein uraltes Gebot geheiligt, welches heisst: “Du sollst nicht töten”.

Doch wie wenig im gegenwärtigen Stande der menschlichen Kultur jenes Recht respektiert und jenes Gebot befolgt wird, das brauche ich nicht zu sagen. Auf Verleugnung der Friedensmöglichkeit, auf Geringschätzung des Lebens, auf den Zwang zum Töten ist bisher die ganze militärisch organisierte Gesellschaftsordnung aufgebaut.

Und weil es so ist und weil es so war, solange unsere – ach so kurze, was sind ein paar tausend Jahre? – sogenannte Weltgeschichte zurückreicht, so glauben manche, glauben die meisten, dass es immer so bleiben müsse. Dass die Welt sich ewig wandelt und entwickelt, ist eine noch gering verbreitete Erkenntnis, denn auch die Entdeckung des Evolutionsgesetzes, unter dessen Herrschaft alles Leben – das geologische wie das soziale – steht, gehört einer jungen Periode der Wissenschaftsentwicklung an.

Nein; der Glaube an den ewigen Bestand des Vergangenen und Gegenwärtigen ist ein irrtümlicher Glaube. Das Gewesene und Seiende flieht am Zeitstrome zurück wie die Landschaft des Ufers; und das auf dem Strom getragene mit der Menschheit befrachtete Schiff treibt unablässig den neuen Gestaden dessen zu, was wird.

Dass das Werdende, das Erzielte immer um einen Grad besser, höher, glücklicher sich gestaltet als das Gewesene, das Ueberwundene, das ist die Ueberzeugung derer, die das Entwicklungsgesetz erkannt haben und die an seiner Betätigung mit zu helfen sich bemühen. Erst durch die Erkenntnis und bewusste Benützung der Naturgesetze und Naturkräfte, sowohl auf physischem wie auf moralischem Gebiete, werden die technischen Erfindungen und die sozialen Einrichtungen geschaffen, welche unser Leben erleichtern, bereichern und veredeln. Ideale nennt man diese Dinge, solange sie noch im Reiche der Idee schweben, als erreichte Fortschritte stehen sie da, sobald sie in eine sichtbare, lebendige und wirkungskräftige Form gebracht worden sind.

“Wenn Sie mich auf dem Laufenden erhalten und ich erfahre, dass die Friedensbewegung den Weg der praktischen Betätigung einzuschlagen beginnt, dann will ich dabei mit pekuniären Mitteln weiterhelfen.”

Dies sind die Worte, die der edle Nordländer, dem ich die Ehre verdanke, vor Ihnen, meine Herren und Frauen, hier zu erscheinen – die Alfred Nobel im Jahre 1892 in Bern an mich richtete, als er dort, wo eben ein Friedenskongress tagte, mit uns, meinem Mann und mir, zusammentraf.

Dass Alfred Nobel sich allmählich überzeugt hat, dass die Bewegung aus dem Wolkengebiet der frommen Theorien auf dasjenige der erreichbaren und praktisch abgesteckten Ziele übergegangen ist, das hat er durch sein Testament bewiesen. Neben den anderen Dingen, die er als zur Förderung der Kultur dienend erkannt hat, nämlich die Wissenschaft und die idealistische Literatur, hat er auch die Ziele der Friedenskongresse, nämlich Erlangung internationaler Justiz und daraus folgend Herabminderung der Heere, angereiht.

Auch Alfred Nobel war der Ansicht, dass die sozialen Wandlungen sich nur langsam und mitunter auf indirekten Wegen vollziehen. Er hatte für die Nordpolexpedition Andrees 80,000 Frcs gespendet. Er schrieb mir darüber, dass dies der Friedenssache mehr nützen könne, als ich glaube.

“Wenn Andree sein Ziel erreicht, selbst wenn er es nur halb erreicht, so wird dies eines jener Lärm und Gärung verursachenden Erfolge sein, welche die Geister bewegen und das Entstehen und die Aufnahme neuer Ideen und neuer Reformen bewirken.”

Aber auch einen näheren und unmittelbareren Weg sah Nobel vor sich. Ein anderes Mal schrieb er mir:

“Man könnte und sollte bald zu dem Ergebnis gelangen, dass sich alle Staaten solidarisch verpflichten, denjenigen anzugreifen, der zuerst einen ändern angriffe. Das würde den Krieg unmöglich machen und müsste auch die brutalste und unvernünftigste Macht zwingen, sich an das Schiedsgericht zu wenden oder ruhig zu bleiben. Wenn der Dreibund alle, statt drei Staaten umfasste, so wäre der Friede auf Jahrhunderte gesichert.”

Alfred Nobel hat die grossen Fortschritte und die entscheidenden Ereignisse nicht mehr erlebt, durch welche die Friedensidee zu lebendigen Organen, d. h. funktionierenden Institutionen gelangt ist.

Im Jahre 1894 konnte er doch noch erfahren, dass der grosse englische Staatsmann Gladstone, noch über das Schiedsgerichtsprinzip hinaus, die Einsetzung eines ständigen Völkertribunals vorschlug. Ein Freund des grand old man, Philip Stanhope, hat der interparlamentarischen Konferenz von 1894 diesen Antrag im Namen Gladstones überbracht und erreicht, dass der Plan eines solchen Tribunals an die Regierungen versendet werde. Auch diese Versendung hat Alfred Nobel noch erlebt. Aber die Folgen davon: die Einberufung der Haager Konferenz und die Gründung des dortigen ständigen Schiedsgerichtshofes, die haben sich erst nach seinem Tode vollzogen. Es bleibt ein unberechenbarer Schaden für die Bewegung, dass ihr Männer, wie Alfred Nobel, Moritz v. Egidy und Johann v. Bloch, zu frühzeitig entrissen worden sind! Zwar wirken ihre Werke und Taten noch über das Grab fort, aber wären sie lebendig unter uns, wieviel würde ihr persönlicher Einfluss und ihre wirkende Kraft noch zur Beschleunigung der Bewegung beitragen. Wie tapfer würden sie den Kampf aufgenommen haben, der gerade jetzt von der Seite des Militarismus geführt wird, um das erschütterte alte System aufrecht zu erhalten.

Vergebens: alte Systeme müssen weichen, wenn ein neues einmal begonnen hat, sich zu organisieren. Die Ueberzeugung von der Möglichkeit, von der Notwendigkeit und von der Segensfülle eines gesicherten juridischen Friedenszustandes zwischen den Völkern ist schon zu sehr in alle Schichten, auch schon in die Machtsphären gedrungen, die Aufgabe ist schon zu klar hingestellt, und zu viele arbeiten schon daran, als dass sie nicht früher oder später erfüllt werden sollte. Heute sind die Staatsoberhäupter schon zahlreich, die sich zum Ideal der Friedensbewegung bekennen. Vor einigen Jahren war noch kein einziger Minister in ihren Reihen. Der erste an der Macht befindliche Staatsmann, von dem ich mich erinnere, dass er offiziell einer interparlamentarischen Konferenz seine Zustimmung mitteilen liess, war der norwegische Ministerpräsident Steen. John Lund war es, der diese Botschaft – die damals Aufsehen erregte – der im Jahre 1891 in Rom tagenden interparlamentarischen Konferenz überbrachte. Die norwegische Regierung war auch die erste, die den Mitgliedern der interparlamentarischen Union Reisespesen und dem Berner Friedensbureau eine Subvention bewilligte. Alfred Nobel wusste wohl, warum er die Verwaltung seines Friedenslegates gerade dem Storthing anvertraut hat.

Sehen wir uns doch ein wenig in der Welt um, ob die Ereignisse und Aspekte wirklich dazu berechtigen, von den positiven Ergebnissen des Pacificismus und von seiner fortschreitenden Entwicklung zu reden. Ein furchtbarer Krieg, wie ihn die Weltgeschichte noch nicht gesehen, hat eben im fernen Osten gewütet; eine noch furchtbarere Revolution knüpft sich daran, die das riesige russische Reich durchschüttert und deren Ende gar nicht abzusehen ist. Nichts als Brände, Raube, Bomben, Hinrichtungen, überfüllte Gefängnisse, Peitschungen und Massakres, kurz eine Orgie des Dämons Gewalt; im mittleren und westlichen Europa indessen kaum überstandene Kriegsgefahr, Misstrauen, Drohungen, Säbelgerassel, Presse-hetzen; fieberhaftes Flottenbauen und Rüsten überall; in England, Deutschland und Frankreich erscheinen Romane, in welchen der Zukunftsüberfall des Nachbars als ganz selbstverständlich Bevorstehendes geschildert wird mit der Absicht, dadurch zu noch heftigerem Rüsten anzuspornen; Festungen werden gebaut, Unterseeboote fabriziert, ganze Strecken unterminiert, kriegstüchtige Luftschiffe probiert, mit einem Eifer, als wäre das demnächstige Losschlagen die sicherste und wichtigste Angelegenheit der Staaten, und sogar die zweite Haager Konferenz wird mit einem Programm versehen, das sie zu einer Kriegskonferenz stempelt, und da wollen die Leute behaupten, die Friedensbewegung mache Fortschritte? …

Man muss eben nicht nur das Auffallende betrachten, das breit an der Oberfläche waltet, man muss auch das zu sehen verstehen, was aus dem Boden hervorspriesst; man muss verstehen, dass zwei Weltanschauungen und zwei Zivilisationsepochen jetzt mit einander ringen, und da wird man gewahr, dass mitten unter dem krachenden, drohenden Alten das verheissende Neue sich emporringt, gar nicht mehr vereinzelt, gar nicht mehr schwach und formlos, sondern schon viel verbreitet und lebenskräftig. Ganz unabhängig von der eigentlichen Friedensbewegung, die ja selber mehr ein Symptom als die Ursache der sich vollziehenden Wandlung ist, geht ein Prozess der Internationalisierung, der Solidarisierung der Welt vor sich. Dazu wirken mit: die technischen Erfindungen, der gesteigerte Verkehr, die sich verzweigenden und international durchdringenden Interessengemeinschaften, die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit, und halb unbewusst – wie Triebe schon sind – waltet da der Selbsterhaltungstrieb der menschlichen Gesellschaft, die ja auf dem Wege der ewig gesteigerten Vernichtungsmethode ihrer Zerstörung entgegenginge und sich instinktiv dagegen aufbäumt.

Neben diesen unbewussten Faktoren, die eine Aera der Kriegslosigkeit vorbereiten, gibt es die vollkommen Zielbewussten, welche den ganzen Aktionsplan schon in deutlichen Umrissen vor sich sehen, welche die Methode kennen und anzuwenden beginnen, durch die das vorgesteckte Ziel sobald als möglich erreicht werden kann. Der gegenwärtige englische Premier Campbell-Bannermann wirft von neuem die Abrüstungsfrage auf. Der französische Senator d’Estournelles will die französisch-deutsche Entente in die Wege leiten. Ein Jaures fordert die Sozialisten aller Länder zum einmütigen Widerstande gegen den Krieg auf. Ein russischer Gelehrter (Novikow) verlangt den Siebenbund der konföderierten Grosstaaten der Erde; ein Roosevelt bietet sämtlichen Staaten Schiedsgerichtsverträge an und spricht in seiner Botschaft an den Kongress folgende Worte:

“Es sei die Pflicht seiner Regierung, auf jede nur mögliche Weise die Zeit näher zu bringen, wo das Schwert nicht mehr Schiedsrichter zwischen den Völkern wäre.”

Bei Amerika möchte ich etwas verweilen. Das Land der unbeschränkten Möglichkeiten zeichnet sich dadurch aus, dass es die grössten und neuesten Pläne mit kühnem Geiste entwirft und zu deren Ausführungen die einfachsten und kürzesten Mittel aufzufinden versteht. Mit anderen Worten: ideal im Denken, praktisch im Tun. Die moderne Friedensbewegung wird – das steht uns in Aussicht – von Amerika aus einen kräftigen Anstoss und eine klare Formel der Verwirklichung finden. In den eben zitierten Worten des Präsidenten liegt die volle Erfassung der Aufgabe und in den nachfolgenden Sätzen, die einer gegenwärtig in Amerika betriebenen Friedenskampagne als Programm dienen, ist die Methode deutlich vorgezeichnet.

1.Schiedsgerichtsverträge.
2.Eine Friedensunion zwischen den Staaten.
3.Eine internationale Institution, kraft deren das Recht zwischen den Völkern ausgeübt werden könnte, wie es zwischen unseren Staaten (von Nordamerika) ausgeübt wird und dadurch die Abschaffung der Notwendigkeit, zum Kriege Zuflucht zu nehmen.

Als mich Roosevelt am 17. Oktober 1904 im weissen Hause empfing, sagte er zu mir: “Der Weltfriede kommt, er kommt gewiss, aber nur Schritt für Schritt.”

Und so ist es auch. So deutlich erkannt, so scheinbar naheliegend und leicht erreichbar ein Ziel auch winkt, der Weg dahin kann nur Schritt für Schritt zurückgelegt, und unzählige Hindernisse müssen dabei überwunden werden.

Und hier handelt es sich noch dazu um ein Ziel, das von vielen Millionen noch gar nicht gesehen wird, von dem unzählige Menschen entweder nichts wissen, oder das sie als eine Utopie betrachten. Mächtige Interessen sind auch damit verbunden, dass es nicht erreicht werde, dass alles beim Alten bleibe. Und die Anhänger des Alten, des Bestehenden, haben einen gar mächtigen Bundesgenossen an dem Naturgesetz der Trägheit, an dem Beharrungsvermögen, das allen Dingen innewohnt gleichsam als Schutz gegen die Gefahr des Vergehens. Es ist also kein leichter Kampf, der noch vor dem Pacificismus liegt. Von allen Kämpfen und Fragen, die unsere so bewegte Zeit erfüllen, ist diese Frage, ob Gewaltzustand oder Rechtszustand zwischen den Staaten, wohl die wichtigste und folgenschwerste. Denn ebenso unausdenkbar wie die glücklichen segensreichen Folgen eines gesicherten Weltfriedens, ebenso unausdenkbar furchtbar wären die Folgen des immer noch drohenden, von manchen Verblendeten herbeigewünschten Weltkrieges. Die Vertreter des Pacificismus sind sich wohl der Geringfügigkeit ihres persönlichen Machteinflusses bewusst, sie wissen, wie schwach sie noch an Zahl und Ansehen sind, aber wenn sie bescheiden von sich selber denken, von der Sache, der sie dienen, denken sie nicht bescheiden. Sie betrachten sie als die grösste, der über haupt: gedient werden kann. Von ihrer Lösung hängt es ab, ob unser Europa noch der Schauplatz von Ruin und Zusammenbruch werden, oder ob und wie in Verhütung dieser Gefahr noch früher die Aera des gesicherten Rechtsfriedens eingeführt werden soll, in der die Zivilisation zu ungeahnter Blüte sich entfalten wird. Das ist die Frage, die mit ihren vielseitigen Aspekten das Programm der zweiten Haager Konferenz füllen sollte, statt den vorgeschlagenen Erörterungen über die Gesetze und Gebräuche des Seekrieges, Beschiessung von Häfen, Städten und Dörfern, Legung von Minen u. s. w. Durch dieses Programm zeigt sich, wie die Anhänger der herrschenden Kriegsordnung diese letztere sogar noch auf dem eigensten Terrain der Friedensbewegung zwar modifizieren, aber aufrecht erhalten wollten. Die Anhänger des Pacificismus jedoch, innerhalb und ausserhalb der Konferenz, werden zur Stelle sein, um ihr Ziel zu verteidigen und sich ihm wieder einen Schritt zu nähern. Das Ziel nämlich, welches, um Roosevelts Worte zu wiederholen, die Pflicht seiner Regierung, die Pflicht aller Regierungen darstellt:

“Die Zeit herbeizuführen, wo der Schiedsrichter zwischen den Völkern nicht mehr das Schwert sein wird.”