Der Franzose

Unter unserer Veranda lag ein niedriges langgezogenes Gewölbe ohne Fenster und nur knapp zwei Meter hoch. Gerümpel und Gartengeräte waren in dem Unterstand gelagert. In der alten Holztüre steckte außen ein rostiger Schlüssel, doch es war nie abgeschlossen. Uns Kindern war es verboten, dort unten zu spielen oder uns zu verstecken. Die wenigen Steintreppen hinunter waren von Gebüsch und überhängendem Grünzeug fast verborgen.
Es war an einem warmen Sommertag im Jahr 1944 während der Mittagszeit. Ich saß an meinem kleinen Schreibtisch vor dem längsseitigen offenen Fenster, unter dem die Steinstufen in das Verlies führten. Es war mein Lieblingsplatz auf der geräumigen Veranda. Vogelgezwitscher und Bienengesumm und die Gerüche der blühenden Blumen und Büsche lockten in den Garten. Doch zuerst musste ich die Schulaufgaben erledigen.
Unser Frauenhaushalt war wie immer mittags in der Woche komplett. Wir hatten gemeinsam gegessen. Großmutter und Tante Elfriede, die für das Mittagessen sorgten und sich um mich und meinen kleinen Bruder kümmerten, waren mit dem Abwasch beschäftigt. Mutter und Tante Ruth wollten sich gerade wieder auf den Weg in unseren Laden begeben, den sie im Nachbarort betrieben.
Vertieft in mein Lernen nahm ich nebenbei wahr, dass jemand mit schweren hastigen Schritten draußen über den Kies lief, Halt machte und erschöpft keuchte. Doch weil sich das Geräusch auflöste, maß ich dem Wahrgenommenen keine Bedeutung bei und vergaß es gleich wieder. Zum Glück!
Ich packte gerade meine Schulsachen zusammen und freute mich auf Herumtollen im Garten, als plötzlich, vom Haupttor her das harsche Bremsen eines Fahrzeugs zu hören war und laute Rufe und Befehle erklangen. Die verbindende Straße zwischen den Ortschaften führt am Haupttor des Grundstücks vorbei. Gleich darauf klingelte es Sturm an unserer Wohnungstür. Meine Großmutter öffnete.
„Haben Sie jemanden in ihre Wohnung gelassen!“
Der barsche Ton war auf der Veranda zu hören und erschreckte mich sehr. Der Uniformierte schob meine Großmutter einfach zur Seite und trampelte mit noch zwei weiteren Bestiefelten in die Wohnung. Meine Mutter, die hinzugekommen war, fragte energisch nach dem Grund dieses Überfalls.
„Ein Gefangener ist geflohen und in Richtung Gaschwitz gerannt. Seine Spur verliert sich hier. Er muss sich hier irgendwo aufhalten. Sie wissen, was darauf steht, einen geflohenen Gefangenen zu verstecken…!“
„Nun mal sachte“, rief meine Großmutter den Eindringlingen hinterher, „wir haben niemanden in die Wohnung gelassen.“
Die Wachsoldaten stürmten durch die Wohnung, öffneten Schränke, schauten unter Betten, inspizierten unsere Abstellkammer. Einer erschien auf der Veranda. Als er mich da sitzen sah, fragte er einigermaßen freundlich, ob ich einen Mann im Garten gesehen hätte. Vor lauter Aufregung war mir meine Wahrnehmung von Schritten auf dem Kiesweg völlig aus dem Gedächtnis geraten. Nein, ich hätte niemanden gesehen, meinte ich schüchtern.
Jetzt erschienen die anderen Häscher und alle liefen die Stufen von der Veranda in den Garten hinunter. Dort setzten sie ihre Suche fort. Interessiert verfolgte ich das weitere Geschehen vom Fenster aus. Fünf Uniformierte waren es. Zwei von ihnen durchsuchten das Hinterhaus, die Schuppen und Stallungen. Drei kehrten ins Haupthaus zurück und kontrollierten die Wohnungen im ersten und zweiten Stock.
Die ganze Aktion dauerte den halben Nachmittag. Dann beorderte die Suchmannschaft alle Erwachsenen der Hausbewohner auf den Hof. Im Befehlston teilte der Anführer die Nachbarn zur weiteren Suche im weitläufigen Grundstück ein. Mittlerweile hatten sich Leute aus dem Dorf eingefunden und ihre Hilfe angedient. Ich hörte Wortfetzen über die Gefährlichkeit des Geflohenen. Alle waren bestrebt, den Feind aufzustöbern. Eine regelrechte Jagdstimmung machte sich breit. „Jowoll Herr Wachtmeister, jawoll, jawoll…“ Es war ein Getümmel im vorderen Garten und dem hinteren Park.
Dann kamen alle zurück und versammelten sich auf der Wiese vor der Veranda. Die älteren Hausbewohner durften wieder ihren Beschäftigungen nachgehen. Meine Mutter und Tante Ruth wurden zurück gehalten. Sie sollten die Keller aufschließen. Tante Ruth und ein Uniformierter kamen über die Wiese auf die Veranda zu. Sie tat sich als eifrige Helferin hervor und sagte: „Ich schau mal im Gewölbe unter der Veranda nach“. Ich hing immer noch am Fenster und hoffte inständig, dass der Feind gefunden würde. Tante Ruth stieg, indem sie mir zuwinkte, rasch die wenigen Stufen hinunter. Der Uniformierte wartete auf dem Kiesweg.
„Hier drin ist niemand“, rief sie überlaut von unten, schloss die Türe ab, steckte den Schlüssel in die Schürzentasche und stieg hastig die Steinstufen hoch. Warum hat sie denn die Tür abgeschlossen, wunderte ich mich.
Am Spätnachmittag war der Aufruhr zu Ende. Auf der Landstraße vor der Villa hatten sich inzwischen mehrere Polizei- und Militärfahrzeuge eingefunden. Nach dem Abmarschbefehl fuhr die Kolonne weiter nach Gaschwitz.
Unser Lebensmittelgeschäft im Nachbarort musste an diesem Nachmittag wegen der Suche nach dem Geflohenen geschlossen bleiben.
Die Hausbewohner standen noch lange im Hof und diskutierten. Wir Kinder gesellten uns zu ihnen. Die Erwachsenen mussten die Aufregung verdauen. Herr Hecht, der alte Hausmeister aus dem Hinterhaus lamentierte am lautesten: „Wenn ich den Kerl erwischen würde, der könnte was erleben. Den Spaten würde ich dem über den Schädel schlagen. Der soll mir nur nicht in die Hände fallen. Aber der kommt ja nicht weit. Erschlagen sollte man diese Dreckskerle!“ Einige stimmten in die Tirade ein. Mutter und Tanten versuchten, die Aufgeregtheit zu dämpfen. Als das nicht gelang, zogen sie sich zurück. Großmutter war schon lange wieder in der Wohnung, um die Bratkartoffeln fürs Abendbrot zu richten.
Wir saßen später in der Küche beim Abendessen. Die Frauen unterhielten sich über belanglose Dinge und erwähnten das Ereignis des Nachmittags mit keinem Wort. Als ich davon anfangen wollte, sagte meine Großmutter fröhlich: „Was vorbei ist ist vorbei, alles ist nur Narretei.“ Oma hatte immer so eigenartige Sprüche auf Lager.
Als Neunjährige musste ich im Sommer spätestens halb zehn ins Bett. An diesem Abend war ich aufgeregt und aufgewühlt. Ich stellte mir vor, der Feind wäre in unserer Wohnung und würde uns nachts überfallen. Das Plakat mit dem schwarzen Mann, das überall hing, wollte mir nicht aus dem Kopf. „Feind hört mit“, stand auf diesem Plakat. Es war doch der Feind, der ausgebrochen war. Und sie hatten ihn nicht eingefangen. Plötzlich fiel mir die kurze Begebenheit, die Schritte im knirschenden Kies vor dem Verandafenster ein. Er ist in dem Gewölbe! Und Tante Ruth hat ihn eingeschlossen. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Ich stand wieder auf und lief in die Küche, wo Oma, Mutter und Tante Elfriede am Tisch saßen und Johannisbeeren rupften.
„Der Feind ist im Gewölbe unter der Veranda“, stammelte ich. Da nahm mich meine Mutter auf den Schoß und sagte:
„Hör mir zu. Ich verrate dir ein großes Geheimnis, das du niemandem weitersagen darfst. Hörst du, niemandem…“
In dem Moment betrat Tante Ruth die Küche. Sie stellte unseren Einkaufskorb auf den Tisch. Er war leer.
„Warum bist du noch auf, Maria“, sagte sie streng. Meine Mutter meinte: „Wir müssen es ihr sagen. Sie hat sonst Angst. Es hat keinen Sinn, die Kinder immer im Unklaren zu lassen.“
• „Kinder schwätzen und es gibt Leute die meinen, Kindermund sagt die Wahrheit“. Ich war wütend auf meine Tante, was wusste sie schon von mir. Ich war nicht dumm. Ich hatte den Feind gehört.
„Ja – der Gefangene hatte sich in unser Gewölbe geflüchtet“, erklärte mir meine Mutter, ohne auf den strengen Blick ihrer Schwester zu achten. „Es ist ein Franzose. Er ist nicht böse. Er tut niemandem was. Und Tante Ruth hat ihm etwas zu essen gebracht.“
„Als ich in den Keller kam, stand er hinter der Tür und zitterte vor Angst“, fügte Tante Ruth hinzu, „es ist einer von der Gefangenenkolonne, deren Aufseher oft bei uns im Laden einkaufen. Ich habe jetzt die Tür offen gelassen. Er wird heute Nacht versuchen, sich weiter durchzuschlagen. In der Kleidung deines Vaters wird ihn niemand so schnell erkennen.“ – „Morgen müssen wir unbedingt seine Gefangenenkleidung vernichten“ vermeldete Oma, die sich am Kohlekasten des Küchenherds zu schaffen machte. „Hörst du Maria, sage keiner Menschenseele etwas davon, sonst sperren die uns alle ein. Nun Marsch ins Bett“. Meine Mutter gab mir einen Klaps.

Ich lag noch lange wach und versuchte meine kindlichen Gedanken zu ordnen. Immer wieder kam mir das Plakat in den Sinn „Der Feind hört mit“. Der schwarze Mann auf dem Plakat, der geflohene Franzose.
Am nächsten Tag in der Schule war die Flucht des Franzosen Klassen- und Pausengespräch. Unser Lehrer stellte die übelsten Vermutungen darüber an, was dieser Verbrecher, wenn er nicht gefangen würde, uns Kindern antun könnte.
Ich erinnere, dass ich bei all den Vermutungen meinen Mund zukniff. Was aus dem armen Kerl geworden ist, haben wir nie erfahren.

Maria Koschate (84 Jahre alt)
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