Ein Tag im April 1945

Ein scharfer Knall vor dem Kellerfenster zerriss meinen Schlaf. Ich fuhr von meinem Lager hoch. Es war fünf Uhr morgens an einem Tag im April 1945. Noch war mir nicht bewusst, dass ich von einem Todesschuss geweckt worden war. Für eine Zehn- jährige ist Außergewöhnliches Abenteuer. Auch als wir direkt vor unserem Keller- fenster ein gequältes Stöhnen vernahmen, das in einem ersterbenden Röcheln endete, dachte ich mir nichts dabei. Erst als mein Großvater in die Erstarrtheit hinein rief:
„Oh Gott, da ist jemand erschossen worden“, verstand ich das Geschehen. Ich nahm wahr, dass alle Kellergenossen entsetzt und wie erstarrt auf ihren Schlaflagern ver- harrten. Eine beängstigende Stille folgte dem Schuss vor dem Kellerfenster.
Seit drei Tagen schon hielten wir uns im Luftschutzkeller auf: zwölf Erwachsene und sechs Kinder. Frau Meschke mit Helmut und Brigitte sowie Hausmeister Hecht mit Frau aus dem Hinterhaus, Frau Maleika mit Schwiegermutter und den Mädchen Ingrid und Edith aus dem zweiten Stock. Der SA-Mann Rüdiger mit Ehefrau aus dem ersten Stock, mein Großvater, meine Großmutter, die Tanten Ruth und Elfriede, meine Mutter, mein zweijähriger Bruder und ich. Wir wohnten im Erdgeschoss.
Eine deutsche Kampftruppe hatte die Villa, in der wir mit noch zwei Familien wohn- ten, beschlagnahmt und sich in unserer Wohnung festgesetzt. Der Führungsoffizier hatte das direkt an der Landstraße von Leipzig nach Böhlen gelegene Haus zwischen den Dörfern Gaschwitz und Großdeuben wohl für strategisch wichtig gehalten. Er hatte den irrsinnigen Plan, die aus Böhlen anrückenden Amerikaner durch eine Pan- zersperre aufzuhalten und zurückzuschlagen, obwohl Leipzig bereits durch die Alli- ierten eingenommen war. Barsch und rücksichtslos hatte der deutsche Truppenführer Tage zuvor das Haus requiriert. Wir Bewohner wurden in den Keller verbannt, wäh- rend sich die Soldaten in unserer Wohnung im Erdgeschoss einrichteten. Granaten und Panzerfäuste lagen auf der Veranda. Am ersten Tag durften wir noch ab und zu in die Wohnung und sahen dabei mit Entsetzen dieses Waffenlager. Mutter und meine Tanten kochten für die Soldaten und erfuhren von einigen, dass sie diesen Einsatz für ein Himmelfahrtskommando hielten, dass der Führungsoffizier jedoch nicht von seinem Plan abzubringen sei.
Vorangegangen waren Tage der Ungewissheit über den Stand der Kämpfe. Plötzlich gab es nachts keinen Fliegeralarm mehr. Das war unheimlich. Stattdessen dumpfer Kanonendonner bei Tag und des nachts. Kämpfe um Leipzig. Etwas Schreckliches bahnte sich an – lag in der Luft. Mutter, Tante Ruth und Großvater beschlossen, den Laden in Großdeuben dicht zu machen und möglichst alle transportablen Vorräte an Lebensmitteln in die Böhlenerstraße zu schaffen. Herr Hecht und Frau Meschke aus dem Hinterhaus halfen mit allen verfügbaren Handwagen und Karren. So wurde eine Fuhre nach der anderen mit Mehl, Trockengemüse, Graupen, Zucker und sonstigen

haltbaren Lebensmitteln herangekarrt und an die Hausbewohner verteilt. Bei den Touren über zwei Kilometer bemerkte die kleine Karawane bald, dass Großdeuben immer menschenleerer wurde. In der Aufregung um das Gelingen der Hamsterfahr- ten machten sie sich nicht die Mühe, danach zu fragen. Bei der letzten Fuhre war keine Menschenseele mehr zu sehen, weder auf der Straße noch in den Gärten. Die Häuser schienen verlassen. Da wurde ihnen klar, dass die Bevölkerung des Dorfes evakuiert worden war. Sicher waren es auch die Gaschwitzer. Uns Bewohner der Villa zwischen den Dörfern hatte man wohl vergessen.
Wir alle blieben jetzt im Haus und harrten der Dinge, die da kommen würden. Das Kampfgetöse kam immer näher. Eine Mörsergranate schlug in die Eiche vor der Ve- randa ein. Der Baum wurde regelrecht abgesäbelt.
Dann erschien dieser verrückte deutsche Offizier mit seiner kleinen Kampftruppe. Wahrscheinlich meinte er, ein leeres Haus vorzufinden und besetzen zu können. Aber wir waren noch da. Doch darauf nahm er keine Rücksicht. Wir Bewohner mussten in den Keller ziehen.
Aus Betonröhren, die vom Straßenbau liegengelassen waren, Feld-Gerätschaften und Holzbohlen bauten die Soldaten eine Panzersperre auf der Straße auf, die an dem Grundstück vorbeiführte. Auf die Bitte meiner Mutter, uns nicht zu gefährden, es seien doch auch Kinder da, reagierte er im Befehlston abweisend und barsch. Ob uns nicht klar sei, dass er uns verteidige.
Wir hatten große Angst vor dem Kommenden. Es war ein geräumiger Gewölbekel- ler, in dem wir auf engstem Raum die Tage in Ungewissheit und Sorge verbrachten. Unsere Notunterkunft hatten wir mit altem Mobiliar einigermaßen bewohnbar ge- macht. Der unangenehme Geruch von feucht schimmeligen Mauern, verfaulenden Kartoffeln und gärenden Äpfeln hing schon in unserer Kleidung. Die aus vier Eimern bestehende mit Brettern bedeckte Not-Toilette gab schubweise Schlimmeres preis.
In der zweiten Nacht Gewehrfeuer aus nächster Nähe. Ein Spähtruppe der Ameri- kaner war bis in unseren Park vorgedrungen. Jetzt durften wir den Keller nicht mehr verlassen. Ein junger Soldat aus der Truppe, der desertieren wollte, wurde vor un- serem Haus standrechtlich erschossen. Das erzählte uns heimlich ein Kamerad, der zutiefst betroffen zu uns in den Keller kam.
Die unvermeidliche Konfrontation der Kriegsgegner hatte in den frühen Morgen- stunden mit Gewehrsalven und Kampfgetümmel begonnen. Das Drama draußen vor unserem Kellerfenster war offenbar das Ende des Gefechtes gewesen. Die Erwachse- nen harrten wie gelähmt der weiteren Ereignisse, von persönlichen Ängsten geplagt. Wir Kinder fanden alles eher spannend. Herr Rüdiger, der als SA-Mann nie an der Front war, band sich das Kopftuch seiner Frau um und versteckte sich hinter ihr. Laute, englische Befehle unterbrachen die unheimliche Stille nach dem Schuss vor dem Kellerfenster. Stiefelgetrampel war vor dem Haus zu hören. Zwar leiser als von den deutschen Soldaten gewöhnt, aber sicher und bestimmend – Schritte von Siegern.

Scheiben klirrten, Glas splitterte und Holz zerbarst jetzt über uns. Die fremden Soldaten hatten anscheinend die Fenster der Veranda mit ihren Gewehrkolben zer- trümmert und waren in unsere Erdgeschosswohnung eingedrungen. Mein Großvater fühlte sich für uns verantwortlich: „Wir müssen ihnen entgegengehen“, erklärte er,
„damit sie nicht in den Keller kommen und um sich schießen. Wir müssen sie freund- lich begrüßen und mit ihnen reden – wer kommt mit?“
Betretenes Schweigen. Herr Rüdiger pflegte seine Angst hinter dem Rücken seiner Frau. „Ich komme mit Vater“, sagte meine zweiunddreißigjährige Tante Ruth uner- schrocken und bestimmt. Sie hatte das Inferno der Ausbombung in Leipzig erlebt, war schon einiges gewohnt. Beide gingen nach oben.
Die Eroberer hatten gerade die verschlossene Wohnungstür von innen eingetreten. Sie trieben Großvater und Tante zurück in den Keller, wo sie wohl noch deutsches Militär vermuteten. Wir Untengebliebenen sahen beide die enge Kellertreppe her- unterkommen, gefolgt von einer Gruppe amerikanischer Soldaten mit Pistolen im Anschlag. Überfordert von der Situation, stand mein zweijähriger Bruder in seinem Gitterbett und schrie erbärmlich. Sein Geschrei wurde noch schriller, als ihn ein schwarzer Soldat freundlich streichelte und ein weiterer tröstend sagte: „Nix weinen, nix weinen…“
Nachdem sich die Amerikaner von unserer Friedfertigkeit überzeugt hatten, verzo- gen sie sich nach oben. Ein GI blieb zurück und hielt uns mit der Pistole in Schach. Träge kauend hockte er auf dem Stuhl vor dem kleinen Tisch in der Mitte des Gewöl- bes und nahm uns reihum mit strengem Blick ins Visier. Plötzlich entdeckte er die Keksdose auf dem Tisch. Uns dabei im Auge behaltend, nahm er den Deckel ab. Er forderte Frau Meschke auf, vor seinen Augen einen Kringel zu essen. Dann begann er, unseren selbstgebackenen Proviant bis auf den letzten Krümel genüsslich zu ver- zehren. Vorher hatte er etwas aus dem Mund genommen und unter den Stuhl geklebt. Wir hörten aus unserer Wohnung bedrohliche Geräusche. Gerätschaften wurden hin- und hergeschoben, Türen krachten.
„Was die da wohl in unserer Wohnung treiben“, flüsterte meine Mutter ihrer Schwes- ter zu, „hoffentlich zerstören sie nicht Kurts Forschungslabor“ – „Wenn die das fin- den, werden sie misstrauisch und nehmen uns in die Mangel“, erwiderte Elfriede. Es hatte sich eine bleierne Stille über unsere kleine Schar gelegt, angestrengt auf alle Geräusche lauschend. Englische Wortfetzen plärrten wie durch ein Megaphon, unter- brochen von Befehlen. Militärfahrzeuge rollten heran. „Die richten eine Funkstation ein“, Großvater beruhigte uns. „Wenn das wirklich so ist“, meinte er weiter, „dann haben wir nichts mehr zu befürchten. Unsere Truppen sind vertrieben oder wurden gefangen genommen, es gibt keine Kämpfe mehr.“
Ein unbehelmter dekorierter Soldat kam herunter und fragte „Who can speak eng- lish?“ Tante Ruth: „Only a little bit. “ – “Come on madam, you must cooking for us in the kitchen”. Großvater wollte seine Tochter begleiten, wurde jedoch brüsk zurück

gewiesen. „Oh das arme Fräulein Ruth“, jammerte die Meschke, „was die wohl mit der machen.“ – „Halten Sie den Mund“, herrschte sie meine Mutter an, „hier sind Kinder.“
Nach etwa einer Stunde kam unsere Tante wieder runter und erzählte, es seien mindestens zwanzig Soldaten in der Wohnung. Sie würden sich wie Barbaren benehmen, seien über die Steppdecken im Schlafzimmer getrampelt, hätten sich mit Michaels Kinderjäckchen den Hintern abgeputzt. Zu ihr seien sie höflich gewesen. Sie habe aus Dosen Essen zubereiten müssen und man habe sie gefragt, ob Nazis im Keller seien. Das Herrenzimmer mit Vaters Apparaturen hätten sie wohl übersehen. Meine Mutter atmete auf. „Hoffentlich bleibt das Zimmer weiterhin unberührt.“ – „Der Trubel hat sich in Schlaf- und Wohnzimmer und auf der Veranda abgespielt“, sagte meine Tante. Alle Fenster der Veranda seien kaputt.
Wir hatten einen Weinkeller. Nur wenige Flaschen lagerten noch in dem Gestell. Gehütete Kostbarkeiten für nach dem Krieg. Ein Soldat inspizierte alle Kellerräume der Mitbewohner, die jeweils bereitwillig die Vorhängeschlösser öffneten. Zuvor hatte der GI nach Wine and Beer gefragt. „We have no Wine and Beer“, war die Antwort meiner Mutter. Doch sie musste wohl oder übel den letzten hinteren Keller, der kein Licht hatte, aufschließen. Der Soldat hob die vor dem Regal angebrachten Säcke hoch, entdeckte die Weinflaschen, setzte meiner Mutter die Pistole auf die Brust und sagte: „No Wine – no Beer ? what you say!!“ Meine Mutter sah ihm fest in die Augen und sagte: „You now, drinking Soldier are not good, we have children and young women here, You understand? “ Der Amerikaner schwieg einen Moment, ließ die Säcke wieder über das Gestell fallen, tippte an seine Mütze und ging. Sie war schon eine tapfere kleine Frau, die Magdalena Markert.
Am frühen Nachmittag durften wir den Keller verlassen. „Geht in den Garten, Kinder“, meinte meine Mutter ahnungslos, „ihr habt nichts mehr zu befürchten, der Krieg ist aus.“ Das ließen wir uns nicht zweimal sagen und rannten ins Freie. Fröhlich zogen wir ums Haus – und da entdeckten wir den toten Soldaten vor dem Kellerfenster. Es war der deutsche Offizier, der die Kampftruppe befehligt hatte. Tags zuvor hatten wir noch mit ihm gesprochen. Neugierig betrachteten wir den Toten. Seine Uniformjacke war in Brusthöhe zerfetzt und blutdurchtränkt. Er lag in einer Blutlache. Trotzdem war es, als schliefe er. So also sieht ein Toter aus, dachte ich. Als wir so standen, kam Frau Meschke um die Hausecke, überblickte sofort die Situation und schrie hysterisch:“ Macht dass ihr ins Haus kommt, ihr habt hier nichts zu suchen!“.

Noch oft musste ich an den toten Offizier denken. Ich begriff schon als Kind, dass sein Tod sinnlos war, dass er ihn aus falsch verstandenem Heldentum selbst verursacht hatte, begriff damit auch die Sinnlosigkeit des Krieges. Tante Ruth hatte damals seine Papiere an sich genommen und sich später mit seiner Familie in Verbindung gesetzt.

Maria Koschate (84 Jahre alt)
Carl-von-Weinberg.Str. 2
60320 Frankfurt a.M.
E-Mail: mkoschate@t-online.de