Schreie

„Ich habe die Schreie wieder gehört“, klagte meine neunzigjährige verwirrte Tante, während ich ihr beim Anziehen half.
Seit vielen Tagen empfängt sie mich jeden Morgen mit dem gleichen Satz, registrierte ich gleichgültig.
„Du hast nur geträumt, hier im Haus schreit niemand“, antwortete ich leicht genervt, wie schon so viele Male, und dachte, sie wird von Tag zu Tag verwirrter.
„Aber ich hab die Schreie gehört, sie hören nicht auf“, wiederholte sie trotzig. Ihr runzliges Gesicht verdüsterte sich, ihr Blick wurde starr und ging ins Leere.
„Jetzt ist ein neuer Tag, freue dich aufs Frühstück und vergiss die trüben Gedanken“, versuchte ich sie aufzumuntern. Widerwillig gab sie sich zufrieden. Ich war froh, meine morgendliche Pflicht erfüllt zu haben und mich wieder meinen Interessen zuwenden zu können. Doch ihre ständige Behauptung Ich habe die Schreie wieder gehört ließ mich heute nicht los. Mir war, als habe sie diesen Satz vor langer Zeit schon einmal ausgesprochen, als gehöre er zu ihr. Es muss im Krieg gewesen sein, ging es mir durch den Kopf, im Zusammenhang mit einem tragischen Ereignis. Ich nahm mir vor, das herauszufinden und künftig auf ihre Ängste geduldiger einzugehen. Es ist nicht leicht, verwirrte alte Menschen zu betreuen. Sie leben in ihrer eigenen Welt. Die Vergangenheit scheint der einzige Haltepunkt in ihrem desorientierten Geist zu sein. Wenn wir dementen Patienten im Pflegeheim begegnen, erscheinen sie uns wie steinalte Kindgeschöpfe, die sich an jedem Tralala erfreuen können. Doch ist das wirklich so? Sie leben in ihren Erinnerungen – so sagt man -, das Langzeitgedächtnis funktioniert noch. Doch was sind die Erinnerungen der jetzigen Alten? Sie haben einen Krieg durchgestanden, manche sogar zwei. Wer hat ihnen geholfen, die schrecklichen Geschehnisse zu verarbeiten? Nach dem Desaster haben sie die Trümmer weggeräumt, unseren Wohlstand begründet und alles Schreckliche in die hinterste Schublade verbannt. Sie waren Überlebenskünstler. Jetzt sind sie alt und müssen sich den Hintern abputzen lassen. Wer fragt nach ihren Gefühlen? Ob sie sich tatsächlich in Gedanken mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart aufhalten? Wer weiß. Und wenn – sind sie dann nicht ab und zu ihren schrecklichen Erlebnissen ausgesetzt, die aus dem Unterbewusstsein hervorgekrochen kommen?
Mit welchen Erinnerungen mag sich meine verwirrte alte Tante plagen, dachte ich. Nun erzählt sie mir schon viele Tage hintereinander jeden Morgen von Schreien, die sie gehört haben will, und mir ist dabei zumute, als gäbe es ein Schlüsselerlebnis, in das ich als Kind einbezogen war. Beim gründlichen Nachdenken fiel mir die Begebenheit wieder ein…

…Es war am 5. Dezember 1943, am Tag nach dem mörderischen Luftangriff auf Leipzig. Unsere kleine Familie, meine Mutter, mein jüngerer Bruder und ich, wohnten in einem Ort südlich der Stadt. Vater war im Krieg. Wir hatten das Bombardement in unserem Luftschutzkeller mit ohrenbetäubenden Einschlägen erlebt – so, als explodierten die Bomben neben unserem Haus. Nach dem Alarm sahen wir die Feuerwand über Leipzig am nächtlichen Himmel, und wir bangten um die Großeltern und unsere Tanten Ruth und Elfriede, die in der Innenstadt wohnten. Ich war acht Jahre alt und erfuhr zum ersten Mal das Ohnmachtsgefühl der Ungewissheit und Sorge. Spärlich sickerten die Nachrichten von der Zerstörung durch. Meine Mutter war wie gelähmt und weinte viel an diesem Tag.
Am frühen Nachmittag kamen die ersten Überlebenden über die Landstraße in unser Dorf gezogen, erschöpft, die Gesichter rußgeschwärzt, mit wenigen Habseligkeiten. Manche zogen Karren, in denen Kinder oder Alte saßen. Niemand konnte meiner fragenden Mutter Auskunft geben. Jeder war mit sich beschäftigt.
Endlich, am späten Nachmittag, es war schon dunkel, kamen auch unsere Leute. Großvater zog einen Handwagen, in dem Oma zusammengekauert saß. Die Tanten, junge Frauen Mitte Zwanzig, halfen, das Gefährt fortzubewegen.
Es war ein Wiedersehen unter Freudentränen. Die Großeltern zogen sich erschöpft zum Schlafen zurück. Ruth und Elfriede ließen sich in unserer geräumigen Wohnküche am Esstisch nieder. Die vorgeschriebene Verdunkelung gestattete nur Kerzenlicht. Jeden Moment konnte es wieder Alarm geben. Der Küchenherd verströmte gemütliche Wärme. Ich hockte auf der Fußbank neben dem Kohlenkasten und wartete gespannt auf den Bericht vom großen Feuer.
Die beiden hatten den ganzen Tag nichts gegessen. Sie löffelten schweigend die Kohlsuppe. Nach der Mahlzeit schob Elfriede, die Jüngere, den leeren Teller von sich, legte ihren Kopf auf beide Arme und weinte leise vor sich hin.
Meine Mutter wagte endlich die Frage an die Ältere: „Ist denn überhaupt nichts zu retten gewesen?“ –
„Lena“, sagte Ruth, „du kannst dir nicht vorstellen, was wir hinter uns haben. Das Haus in der Salomonstraße steht nicht mehr, es ist alles verbrannt, wir haben nichts mehr!“ –
„Ihr könnt bei uns bleiben, das ist doch klar.“ Meine Mutter streichelte den Arm ihrer Schwester: „Wir haben genügend Platz, macht euch keine Sorgen, wir rücken zusammen.“
„Es war so schrecklich, so furchtbar, ein Inferno.“ Die Tante schien das Angebot ihrer Schwester nicht gehört zu haben. Sie redete und redete.
„Wir saßen kaum im Keller, da gings schon los. Die müssen gleich zu Anfang des Angriffs die Druckerei Reclam in unserer Straße getroffen haben. Der ganze Häuserblock brannte wie Zunder, bestimmt Phosphor.“ –
„Konntet ihr wenigstens eure Papiere retten?“ –
„Nein – es ging Schlag auf Schlag. Wir mussten aus dem Keller. Rauch breitete sich aus.“ –
„Wie seid ihr aus dem Keller gekommen?“ –
„Zum Glück kamen wir noch in unsere qualmende Wohnung im Erdgeschoss. Die Badewanne war mit Wasser gefüllt.“ –
„Gott sei Dank, Vater hatte also recht mit dieser Vorsichtsmaßnahme.“ – „Ja – er hat seine Aufgabe als Luftschutzwart sehr ernst genommen. Auch unsere Nachbarn konnten sich mit nassen Decken schützen.“ –
„Wie habt ihr klar denken können, ist keine Panik ausgebrochen?“ –
„Nein – wir erlebten alles wie in Zeitlupe, wir funktionierten. Es ist unglaublich. In uns Menschen stecken ungeahnte Kräfte.“
Mit einem Blick auf ihre weinende jüngere Schwester senkte Ruth ihre Stimme.
„Lena“, flüsterte sie, „die Frau Weber mit ihren zwei Jungen, die aus dem Hinterhaus, die konnte sich nicht mehr retten!“ –
„Mein Gott – die arme Frau, sie hatte so nette Buben.“ Meine Mutter war fassungslos.
„Ich habe sie schreien hören“, fuhr meine Tante stockend fort, „ich bin in all dem Rauch und Qualm – das Treppenhaus brannte schon – an die hintere Haustür gelaufen. Frau Weber stand im Nachthemd in der Tür des Hinterhauses mit Kurt und Hermann an der Hand. Sie muss den Alarm überhört haben, denn sonst war sie immer eine der ersten im Luftschutzkeller. Ich rief ihr zu, sie solle über den Hof nach vorne laufen, aber sie stand wie versteinert. `Kommen sie hier rüber` brüllte ich immer wieder. Sie traute sich nicht, denn die Funken stoben.“ – „Konntest du sie nicht noch zu dir zerren?“, fragte meine Mutter erschüttert.
„Es war unmöglich, auf dem Hof lag eine Fuhre Anthrazit, das anfing Feuer zu fangen. Ich hätte mein Leben riskiert.“ –
„Vielleicht hat sie es doch noch geschafft durch die Gartentür“, erwiderte meine Mutter tröstend.
„Der Haufen Brennmaterial hat ja die Gartentür blockiert. Sie hätte mit ihren Kindern über den glühenden Kohlenberg steigen müssen. Das hat sie bestimmt nicht geschafft.“
Meine Tante bekam eine traurige Stimme, als sie sagte: „Ich habe sie schreien hören, furchtbar schreien. Diese Schreie werde ich mein Lebtag nicht vergessen.“
… Das war es. Der Blick in die Vergangenheit schien mir als des Rätsels Lösung. Meine verwirrte Tante wurde von ihren inneren Stimmen geplagt, dessen war ich mir nun sicher. Ich wollte Sie davon erlösen.
Voller guter Vorsätze betrat ich am nächsten Morgen ihre Wohnung. „Guten Morgen – hast du gut geschlafen?“, begann ich den Dialog.
„Ich hab die Schreie wieder gehört.“ Stereotyp leierte sie den Satz herunter. Jetzt wusste ich, worum es ging. „Wer hat denn geschrien?“, fragte ich.
„Sie schreien vor dem Fenster!“ Meine Tante schüttelte erschrocken den Kopf.
„Vor dem Fenster schreit niemand“, begütigend hakte ich mich bei ihr ein. „Komm lass uns gemütlich Kaffee trinken.“
Dann fragte ich vorsichtig: „Wer ist es denn, der so schreit?“ – „So schrill, so eklig schrill“, jammerte sie.
So komme ich nicht weiter, dachte ich und fragte: „Kannst du dich noch an eure Ausbombung erinnern“.
„Ja“, antwortete sie erfreut darüber, von früher erzählen zu können: „als wir aus dem brennenden Haus traten, war so ein starker Sog. Wir wären ins Feuer gezogen worden, wenn wir uns nicht an den Laternenpfählen festgehalten hätten. Wir sind dann zum Bunker am Johannisplatz gelaufen. Da waren auch die Goldfasane“, schloss sie mit einem Augenzwinkern.
Goldfasane? Jetzt phantasiert sie wieder, dachte ich, bis mir einfiel, dass die SA-Leute damals im Volksmund „Goldfasane“ hießen.
„Und was war mit der Frau Weber vom Hinterhaus“, fragte ich beklommen.
„Welche Frau im Hinterhaus. Da war keine Frau im Hinterhaus.“
Und im nächsten Moment: „Hörst du – da schreien sie schon wieder, direkt vor dem Fenster.“
Die zwei zänkischen Elstern vor dem offenen Fenster ließen mich fast an meinem Verstand zweifeln.

Maria Koschate, 2004