Flucht in den Westen

Es war Anfang Juni 1950.
Die Eltern saßen in den Korbsesseln auf der Veranda. Die Nachmittagssonne trieb ihr Licht– und – Schattenspiel, tanzte auf dem Linoleum – Fußboden, vergoldete und verdunkelte die Gesichter meiner Eltern. Ich gab vor zu lesen, saß in meiner bevor- zugten Ecke auf dem abgesessenen Plüschsofa mit einem Buch in der Hand. Es war Sonntag – Nachmittag. Michael tobte irgendwo im Garten. Angespannt lauschte ich auf die leisen Stimmen meiner Eltern.
„Ich fahre morgen mit dem Frühzug nach Eisenach zu meinem Bruder. Von dort werde ich den Grenzübertritt schaffen. Die dürfen mich einfach nicht erwischen mit meinem inhaltsreichen Jackett“, flüsterte mein Vater. Mutter hatte die schriftlichen Ergebnisse des Forschungsprojektes in das Jackenfutter eingenäht.
„Falls hier jemand auftaucht und nach mir fragt, dann sage, ich wäre nach Thüringen gefahren, um Arbeit zu suchen.“ –
„Ich glaube kaum, dass jemand hier aufkreuzt, die haben dich vergessen Kurt. Seit der Amnestie ist niemand mehr hier erschienen. Die Sache ist für die erledigt.“ –
„Das glaube ich nicht. Denk dran, als ich vor zwei Wochen das Grundstück veräu- ßern wollte, haben sie mich nach Leipzig einbestellt zum Rat des Kreises. Ich bin nicht hingegangen, habe vom Verkauf Abstand genommen. Das verfolgen die doch. Wenn die daraus schließen, dass wir uns absetzen wollen, dann tauchen die hier auf. Wir wollen hoffen, nicht in den nächsten zwei Wochen.“
Ich kannte das Vorhaben, die Flucht, und war seitdem einem Wechselbad der Gefühle ausgesetzt. Abenteuerlust und Verlustangst kämpften in mir, sodass ich kaum noch schlafen konnte. Das mir abgenommene Versprechen, nichts davon den Großeltern und Verwandten zu sagen, ja auch dem sechsjährigen Bruder gegenüber zu schwei- gen, hatte ich eisern gehalten.
Endlich war meine Zeit als Hilfe im Haus und Geschäft meines Onkels Arno in Zwenkau vorbei. Doch was erwartete mich im Westen? Könnte ich dort wieder in die Schule gehen, in die Höhere Schule, die mir hier verwehrt wurde? Wie sieht unsere Zukunft im unbekannten Land aus?
Dieser Sonntagnachmittag mit dem Lichtspiel auf der Veranda, mit dem Bild meiner geliebten Eltern, die sich zuversichtlich über die geplante Flucht unterhielten, prägte sich tief in mein Gedächtnis ein. Es war die Ahnung unvorhersehbarer Veränderun- gen im Leben meiner Familie.
Vater hatte sich am Montagmorgen verabschiedet und war zum Gaschwitzer Bahn- hof gegangen, ohne Begleitung, unauffällig wie die Arbeiter des Dorfes, die mor- gens die Bahn benutzten. Ich sah ihm hinterher aus dem Küchenfenster. Er ist zu seinem Bruder gefahren sollte ich jedem, der nach seinem Verbleib fragte, erzählen.

Ich würde es tun. Michael hatte schon den Ranzen auf. Es war der letzte Schultag vor den großen Ferien. Er war in der ersten Klasse.
Zwischen meinen Eltern war ein Telegramm verabredet. Ohne Absender nur ein Glückwunschtelegramm. Es bedeutete für meine Mutter den Aufbruch mit den bei- den Kindern. Kommt nach, wie auch immer, ich habe die Aufenthaltsgenehmigung war die Botschaft des Telegramms.
Unter der Bevölkerung wurde über Fluchtmöglichkeiten getuschelt. Meine Mutter holte sich halbwegs verlässliche Informationen. Man brauchte Geld für die Grenz- schleuser. Die seien unverschämt, die Schlepper, nützten die Situation der Flüchten- den. Es war vor dem Mauerbau.
Er stand am Mittwoch vor der Tür, der schmierige Typ und fragte scheinheilig: „Wir hättn gerne erforn, wo ihr Mann is, Frau Markort.“ Meine Mutter war eine herzens- gute und liebevolle kleine Frau. Doch sie wurde zur Löwin, wenn es um ihre Familie ging. Das hatte sie schon beim Einmarsch der Amerikaner bewiesen. „Mein Mann? Ja wo soll der denn sein? Das fragen Sie noch? Sie haben ihn doch enteignet und eingesperrt! Er ist amnestiert worden. Was wollen Sie denn noch. Er ist zu seinem Bruder nach Eisenach gefahren und versucht dort Arbeit zu kriegen. Ist das verboten? Und jetzt gehen Sie, ich muss meinen Jungen von der Schule abholen.“
„Na entschuldschen se nur, sein se nich gleich so bambisch. Ihr Mann hat Dienstag nächster Woche weschen der Grundstückssache in Leipzsch beim Rat des Kreises zu erschein. Hier is de polizeilische Vorladung.“ –
„Mein Mann wird den Termin wahrnehmen. Auf Wiedersehen!“
„Mein Gott Maria“, klagte meine Mutter am Abend, „was machen wir nur, wenn wir bis nächsten Dienstag nichts von Vati hören. Und wenn der Kerl in unsere halb- leere Wohnung gekommen wäre. Ein Glück, dass ich den an der Haustüre abfertigen konnte.“
Tags darauf kam das Telegramm. Jetzt wurde es ernst.
Mit dem Arbeiterfrühzug 5.30 Uhr sollte es losgehen Richtung Oschersleben. Mi- chael war noch schlaftrunken, als ihm Mutter einen kleinen selbstgenähten Rucksack aufsetzte, in dem Stullen und zwei Äpfel gepackt waren. Ich trug über meinem Som- merkleid die bunte Strickjacke und hatte die Umhängetasche aus Bast dabei. Alles, was mir lieb und teuer war, musste ich zurück lassen. Mutter hatte in ihrer Tasche nur die Ausweise, die man in der DDR immer dabei haben musste, das Portemonnaie sowie einen gestrickten Langschal gepackt. Die Geldscheine waren in Michaels Rucksack eingenäht.
Ich spürte Anspannung und Abenteuerlust. Meine Mutter würde schon alles richten. Michael war guter Dinge, denn er wusste, bald würden wir Vati treffen. Sicher fragte er sich, wo es wohl hinging und warum Mutter und Schwester so aufgeregt waren. Auf dem Bahnsteig in Gaschwitz, auf dem sich viele Arbeiter und Arbeiterinnen be- fanden, die ins Böhlener Werk fuhren, entdeckte meine Mutter plötzlich eine Nach-

barin, die im Rat der Gemeinde das Wort hatte. Sie betrachtete uns neugierig und irgendwie verdutzt. Ein Anruf bei der Polizei hätte genügt, den Fluchtplan platzen zu lassen.
Viele Leute waren mit der Eisenbahn unterwegs. In den heruntergewirtschafteten Waggons roch es nach Holz, Eisen, Schweiß, Käse und Zwiebeln. Unter den Fahrgäs- ten herrschte Schweigen.
Wir saßen zu dritt in einer Ecke mit vier Plätzen und waren unter uns bis Oschersle- ben, wo wir umsteigen mussten nach Hötensleben.
Von irgendjemandem hatte Mutter erfahren, dass es von Hötensleben aus einen or- ganisierten Schlepperring gab, der Flüchtlinge über die Grenze Richtung Schöningen
/Niedersachsen schleuste. Die Vopo kontrollierte auch gleich nach dem Umsteigen alle Pässe und fragte nach dem Zweck der Fahrt nach Hötensleben. Mutter log wie gedruckt von einer kranken Schwester und nannte sogar eine Straße. Ihre Ruhe und gespielte Sorglosigkeit übertrug sich auf mich. Was konnte uns schon passieren. Wir waren raffinierter als die.
Der Zug hielt in der Endstation Hötensleben, dem Grenzdorf auf DDR-Seite. In dem winzigkleinen Bahnhof liefen die Menschen quirlig durcheinander und ich spürte eine eigenartige Nervosität bei den Menschen. Es wimmelte von Vopos. Meine Mut- ter ging zielstrebig die Hauptstraße entlang bis zu einem Wirtshaus. Jemand hatte ihr diesen Hinweis gegeben. Montags geschlossen sagte das Schild vor der Tür. Wir waren entsetzt. Ziellos liefen wir durchs Dorf und kamen an ein anderes Gasthaus, das geöffnet war. Wir gingen hinein in die verräucherte Kneipe, setzten uns an einen Tisch mit sechs Stühlen in der Ecke des Lokals und bestellten Limonade und je eine Bockwurst mit Kartoffelsalat. Einige Vopos saßen im Raum verteilt an verschiedenen Tischen. Ich spürte, dass meine Mutter von Mutlosigkeit ergriffen wurde. Viel unter- halten konnten wir uns nicht.
Da tauchte plötzlich an unserem Tisch ein alter Mann auf. Er hinkte, hatte eine alte Joppe und verwaschene Knickerbocker an und roch nach Alkohol. Ohne zu fragen setzte er sich neben meine Mutter und bestellte sich ein Bier. Der Wirt schob es ihm mit ein paar persönlichen Worten zu. Er trank still vor sich hin, doch seine Blicke huschten wie gehetzt hin und her und her und hin.
Plötzlich schob er seinen Stuhl dicht an den meiner Mutter und zischelte ihr aus dem Mundwinkel zu: „Wollt ihr rüber? Ja oder nein!“ Meine Mutter setzte alles auf eine Karte und flüsterte gekonnt gleichgültig zurück: „Ja“.
Wieder unerträgliches Schweigen. Winkt er jetzt einem Vopo? Werden wir jetzt verhaftet? Mir schlug das Herz bis zum Hals. Der Alte trank sein Bier aus, wischte mit dem Hemdärmel vor sich auf dem Tisch herum, winkte dem Kellner, beugte sich dabei zu Mutter und murmelte:
„Gleich kommt ein junger Mann, folgt ihm, nicht zusammen, nicht zusammen, hören

Sie, einzeln mit Abstand.“
Er verstummte, denn der Kellner kam, um zu kassieren.
„Wir bezahlen auch“, sagte meine Mutter. –
„Das war dumm“, meinte der Alte, nachdem der Kellner gegangen war. Dann nahm er das Geflüster wieder auf:
„Hinter dem jungen Mann, im Abstand von zehn bis zwanzig Metern, erst das Mäd- chen, dann die Mutter mit Jungen. Geld bereithalten.“ Mutter schob ihm ein paar Scheine heimlich zu. Er strahlte, erhob sich und ging.
Wieder banges Warten. Mutter wühlte im Rucksäckchen herum, holte das versteckte Restgeld in Knüllen heraus und stopfte es in ihre Jackentasche. Die Tür öffnete sich zu einem Zeitpunkt, als gerade keine Vopos im Raum waren. Der junge Mann winkte hastig. Ich hatte alles verstanden, erhob mich und folgte dem Unbekannten, ohne mich umzublicken. Er schlenderte lässig durchs Dorf. Manchmal verlor ich ihn fast aus den Augen. Er ging diese Straße entlang und jene, manchmal hatte ich das Gefühl im Kreis zu gehen. Ich guckte interessiert in die Gärten, hielt den nötigen Abstand, wie befohlen. Manchmal, wenn die Straßen kurz waren und er um eine Ecke ver- schwand, verlor ich ihn aus dem Auge und es erfasste mich Panik. Doch dann stand er wieder irgendwo vor mir. Wir kamen durch eine kleine Siedlung und endlich lag vor uns eine etwas abschüssige lange Straße, die auf eine große Wiese führte. Nur Wiesen und Felder vor uns. Das Dorf war hier zu Ende.
Rechts erhob sich der Hügel einer alten Sandgrube. Auf der Hügelkette war ein Posten zu sehen. Mit geschultertem Gewehr ging er auf und ab. Er konnte Wiesen und Felder überschauen. Mich überfiel Angst. Jetzt war es soweit. Jetzt war es bit- terer Ernst. Der vor mir laufende Mann verlangsamte seine Schritte, ich ebenfalls. Ein kurzer Blick nach rückwärts zeigte mir meine Mutter mit Michael, die beide da- hin schlenderten, als gingen sie spazieren. Derweil war der Vordermann unten an der Wiese angekommen.
Er winkte mir zu, mich zu beeilen und ich sah, dass der Posten auf dem Hügel ver- schwand. Entweder hatte die Grenzpolizei Wachwechsel oder der Wachposten steckte mit den Schleppern unter einer Decke.
Auf jeden Fall hatte ich jetzt den Vorläufer erreicht. Er befahl mir mit kurzen Wor- ten, geradeaus über die Wiese zu rennen was das Zeug hielt und dann den weit hinten liegenden Bach zu durchwaten. Es sei flaches Gewässer.
Schon war meine Mutter bei ihm, packte ihm den Knüllen Scheine in die Hand und rannte ebenfalls los. Ich wartete, bis sie mich eingeholt hatte. Wir nahmen meinen Bruder in die Mitte. Er wurde von uns gezerrt und geschleift. Seine kleinen Beine hielten tapfer mit, aber er stolperte an unseren eisernen Händen. Wir rannten durch eine Herde Gänse, die uns zischend folgten. Das war ein Gekreisch und Geflatter,

eine Rennschlacht mit dem schrecklichen Gefühl, gleich knallt es, gleich hat uns der Wachposten.
Am Bach angekommen, zögerte ich, denn das war kein Bach, das war schon ein kleiner Fluss, etwa fünf Meter breit. Meine Mutter brüllte: „Rein ins Wasser und durch.“ Sie hob meinen Bruder auf den Arm und platschte ins Wasser. Ich rutschte bis zur Hüfte ins Nass. Die Strömung machte uns zu schaffen, aber wir kämpften uns Schritt für Schritt auf das gegenüber liegende Ufer zu. Ich sackte auch mal durch und prallte mit dem Knie auf den steinigen Untergrund. Doch wir schafften es. Drüben robbten wir klatschnass die kleine Böschung hoch und wollten gerade weiter rennen. Da riefs von der rückwärtigen Uferseite.
„Sie brauchen nicht mehr rennen. Sie sind im Westen.“
Ein Bauer oder wer weiß was für einer stand da keine zehn Meter von uns entfernt auf der Wiese. Bei unserer Hetzerei hatten wir außer den Gänsen und Enten niemanden wahrgenommen.
Wir setzten uns erst einmal ins Gras. Es muss so gegen 17.00 Uhr gewesen sein an diesem Nachmittag. Mutti nahm den gestrickten Schal und trocknete uns halb- wegs ab. In einiger Entfernung sahen wir ein Grenzerhäuschen. Da musste auch eine Straße sein. Wir drei trabten hinüber. Ein Westgrenzer begrüßte uns freundlich, nahm für uns je eine Tafel Schokolade aus einem Regal, fragte nach den Pässen und nach unserem Ziel.
„Mein Mann erwartet uns. Er hat die Aufenthaltsgenehmigung.“ Er wies uns an, die Straße entlang bis nach Schöningen zu laufen und uns dort bei der Polizei zu melden. Auf dem Weg dorthin kam uns unser Vater entgegen. Unsere Flucht war geglückt. Auf der Polizeidienststelle in Schöningen legte er eine Aufenthaltsgenehmigung vor, die er von der Besatzungsbehörde erhalten hatte. …and for his family… war der Schlüsselsatz, der uns aufatmen ließ. Er hatte den Amerikanern seine Forschungs- unterlagen vorgelegt und die Einreisepapiere sofort bekommen. Eine ausführliche Vernehmung bei den Amerikanern stand ihm noch bevor. Doch zunächst wurden wir dem Flüchtlingslager in Kreiensen zugewiesen. Die Vernehmung fand nie statt

Maria Koschate (84 Jahre alt)
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